Die Stärke ist die Grundlage aller Tugend.
Jean-Jacques Rousseau (steckte seine eigenen Kinder in Waisenhäuser)
Das hier ist mein Wolhauser.
Ein grandioses Stück aus Frankreich. Es kam als Wrack zu mir. Jemand wollte aus dem verbeulten, geschundenen, rostigen und verkratzten Rahmen ein Rat Single Speed machen. Das ist ein Stadtrad mit abgerissener Optik, aber dafür hätte er sich halbwegs mit der Technik auskennen müssen. Er schaffte es nur, das Rad zu zerlegen, in den Keller zu bringen und liegen zu lassen. Bis er Geld für eine Autoreparatur brauchte und es an mich verkaute. Seitdem ist es mein L’Eroicarad, und so, wie es sein soll: Ein phantastisches Stück, dem man seine harte Geschichte und die Patina seit 1970, aber nicht das Versagen des Zerlegers ansieht.
Das ist ein Team Raleigh von 1977. Es sieht nicht nur aus wie neu, es ist neu. Es ist seit 1977 einmal um den Block gefahren. An Weihnachten 1977 durch den neuen Besitzer, der damit beschenkt wurde. Der wartete dann auf den Frühling, hatte dann Besseres zu tun, im Sommer auch, und außerdem war damals der Radhype rund um Didi Thurau, der auf so einem Rad eine Weile die Tour de France anführte, auch schon wieder vorbei. Die nächste Strecke fuhr ich nach dem Erwerb von seinem Sohn und Erben damit letztes Jahr zum Phototermin.
Das hier ist ein Cicli Razzo aus einer kleinen, feinen italienischen Manufaktur. Mit Chrommuffen. 1982 kaufte es ein Deutscher nahe Rimini für sein Ferienhaus und fuhr damit, ab und zu, laut Familiensaga zum Cafe. Meistens aber nicht, weil es zu heiß war. Es hat immer noch das erste Lenkerband. Und keinen Kratzer.
Das ist ein Somec, ein tolles, nervöses Rad aus einer berühmten Schmiede. Gekauft und gebaut wurde es 1984 in Augsburg, und bei einer der ersten Fahrten schmiss es den Besitzer auf den Strassenbahnschienen. Das war ihm eine Lehre, und er fuhr wieder Auto, bis er starb und seine Erben das Rad an mich weiter gaben. Es ist unter mir mehr als unter seinem Erstbesitzer gelaufen.
Das ist ein Enik Tourmalet, das Spitzenmodell des deutschen Herstellers von 1987. Es wurde so gekauft, so ein, zweimal bewegt, und stand dann so jahrzehntelang im Keller, weil der Besitzer merkte, dass der Sport für ihn nichts ist. Es war 1987 mein Traumrad, das ich gekauft hätte, hätte ich 3400 DM locker machen können. Wie man sieht, man muss nur warten. Andere heben es im Neuzustand für einen auf.
Das ist ein Specialized Roubaix Expert von 2011, gekauft von mir für genau 3000 Euro weniger, als der Erstbesitzer bezahlte. Der ist damit vielleicht 300 Kilometer gefahren, bis sein Kind kam, und jetzt macht er das gar nicht mehr. Die Kosten lagen bei 10 € pro Kilometer. Wenn ich alles zusammenrechne, kostet der Kilometer in meinen benzinsaufenden Monster SLK350 vom Stuttgarter Band bis zum neuen Leben in Algerien oder Moldawien 0,80 Euro. Wahrer Luxus ist nicht, auf Ledersitzen mit 250 Sachen offen zu fahren. Wahrer Luxus ist, so ein Rad zu kaufen und nicht zu benutzen.
Und das hier ist ein Reiserad für Damen von Radsport Rabe in München. Als ich in München studierte, gab es einen Boom bei Trekkingrädern und Mountainbikes, und Rabe war eines der Geschäfte, die jenes Besondere hatten, das man damals als prestigeträchtig ansah. Sattelstützen für 200 DM, Titanschrauben, Kohlefasernaben. Und hochwertige Rahmen, die nach eigenen Vorgaben in Italien gelötet und pulverbeschichtet wurden. Wer zu einer grossen Radreise aufbrechen wollte, konnte sich damals einen Randonneur von Koga Miyata von der Stange kaufen, wie den hier, der als Stadtrad missbraucht, weggeworfen und von mir restauriert wurde.
Oder er ging eben zu einem der spezialisierten Händler, erklärte seine Wünsche, und liess sich von Experten das Optimum zusammenstellen. So ein Rad ist das Rabe. Es ist nicht in der obersten Liga, die damals bei 5-6000 DM anzusiedeln war. Aber es ist ein durchdachtes Rad mit hochwertigen, dauerhaften Lösungen, und dürfte um 3000 DM gekostet haben. Also 1/5 dessen, was damals ein neuer VW Golf kostete.
Abgesehen von Verschleissteilen wie Kette, Ritzel und Reifen sollten das Rad und die Komponenten tatsächlich weitaus mehr als jene 50.000 Kilometer halten, die bei hochwertigen Produkten dieser Szene damals als Minimum angesehen wurden. So gesehen würden sich die 3000 DM lohnen, denn der Kilometer würde selbst bei Totalverschleiss mit anschliessender Entsorgung gerade einmal 3 Cent kosten. Tatsächlich wurde das Rad am letzten Freitag nach 25 Jahren entsorgt, während man in Hamburg den neuen Beitrag von Hasnain Kazim einplante. Ich habe von diesem Autor noch nie ein Bild auf dem Rad oder den Bericht einer Alpenüberquerung gesehen, aber als Vorreiter bin ich natürlich tief gerührt, wenn unsere bayerischen Umweltschutzgedanken, die wir dank schwäbischem Erfindungsgeist schon lange mit schönem Erfolg praktizieren, nun auch in den rückständigen und reaktionären Regionen des Landes ankommen, wo mit Containerschiffen und Ozeanriesen heute noch die Öko-Pest der Weltmeere gebaut und gefeiert wird. Fahren Sie mal nach Hamburg, ich war dort: Es sieht wirklich aus wie ein Moloch, aus dem trotz Aufklärung und Fortschritt immer noch die Genderbeiträge der Zeit und die Stickstoffoxide der Schiffsdiesel auf die Welt losgelassen werden.
Entsprechend begeistert sind im Internet die Reaktionen, an die ich mich hier ebenfalls anschließe: Tausende stellen fest, dass sie auch mit dem Rad fahren könnten, und sind überzeugt von den Argumenten bei Spiegel Online. Fairerweise müsste man dazu noch sagen, dass der Mensch mit der Verbrennung von Nahrung und deren teurer Herstellung durch Landwirtschaft nicht emissionsfrei ist. Das Ganze ist nur halbwegs bio, weil das Rad mit seinen guten Wirkungsgrad dem miserablen Wirkungsgrad des maximal 200 Watt leistenden Motors Mensch entgegenkommt. Es gibt Untersuchungen, dass vier Menschen auf Rädern auf 100 Kilometer in der gesamten Ökobilanz nicht besser als 4 Leute in einem kleinen Auto sind. Ich finde es besser, in mich einen Kaiserschmarrn und eine Torte zusätzlich zu stopfen, als mein Auto mit 10 Litern zu betanken. Aber jede Fortbewegung, das muss man sagen, belastet die Umwelt.
Man kann nun dagegen argumentieren, dass Sondereffekte wie die Gesundheit das aufwiegen, während Linke dann wieder sagen, dass es zu viele alte, weisse Männer gibt, die in Bezug auf Umwelt und Gleichberechtigung mit ihrem Dasein als Schaden zu betrachten sind – die Zeit hat auch dazu einen genderistischen Beitrag (Triggerwarnung Genderismus, Hate Speech, Feministische Wissenschaft). Aber das geht, wenn man das Rabe und seine Besitzerin anschaut, oder all die anderen Räder, am Thema vorbei. Das eigentliche Thema ist, dass es viele gute Vorsätze wie im Spiegel gibt. Aber enorm viel schlechte Umsetzung. Legion sind die Räder, die im Frühjahr gekauft werden, im Herbst aufgrund mangelhafter Pflege ohne Öl auf der Kette schon knirschen, im im nächsten Frühling nicht mehr ausgepumpt werden, weil das mit dem Ventil zu kompliziert ist. Bei der Abgabestelle, die ich kenne, sind die wenigsten Räder mehr als ein paar tausend Kilometer gelaufen. Sie werden benutzt, solange sie gehen, und wenn die erste Reparatur ansteht und nicht ganz billig ist, kaufen sich die Menschen lieber etwas Neues.
Und so kommt es, dass das Signalisieren von Werten mit dem Kauf eines Fahrrades in der realweltlichen Umsetzung überhaupt nicht ökologisch oder gesund ist. Das Rabe ist ausweislich der abgefahrenen Kette etwa 4000 Kilometer gelaufen, und wäre mit einer neuen Kette ohne Schaltprobleme weiter gefahren. Eine Kette und ein Kettennietdrücker kosten 25 Euro, aber dazu reichte es offensichtlich nicht. Statt dessen verstaubte und verrostete das Rad, das sicher mit besten Absichten und einem Brooks-Damensattel gekauft worden war, vor sich hin. Kosten pro Kilometer: rund 0,40 Euro. Nicht billiger als ein Mittelklassewagen Anfang der 90er Jahre. Und die gesamte Umweltbilanz, hätte man es verschrottet, wäre pro Kilo auch nicht besser als ein Auto.
Natürlich hört man das in abgelegenen Weltregionen am Nordpolarkreis, die gerade erst das Licht der Aufklärung und die Vorzüge unserer an Transalp und L’Eroica gestählten Konstitution bewundern, nicht gerne, weil man vor allem zeigen möchte, was man für die Umwelt zu kaufen bereit ist. Aber Tugenden müssen auch gelebt werden, wie nachhaltige Lebensmittel, Geschlechtsverkehr mit Kondom, mehr Sport und weniger hirnlose Serienglotze und Zigaretten. Jeder weiss im Prinzip, wie Tugenden aussehen, und wie schwierig es ist, sie gegen Gewöhnung und Bequemlichkeit durchzusetzen. Es gibt tausend gute Gründe, mit dem Rad zu fahren. Und immer einen besseren Grund, warum es gerade heute nicht geht und dann morgen sein wird, sofern dann noch genug Luft im Reifen ist.
Das Rabe hätte bei guter Pflege jahrzehntelang seine Dienst tun können. Es wurde benutzt, wie man einen Schwamm in der Küche benutzt: Als Verschleissteil, lieblos und desinteressiert. Kein Lager wurde je gefettet, keine Schraube gelöst, der Vorbau war eingerostet und im Schaltkäfig klebte der Dreck. Da ist nach dem Kauf einer pinkfarbenen Klingel keine Liebe und keine Zuneigung mehr spürbar, nichts von jener “tender loving care”, von der Briten so gern reden. Es war halt da, solange es lief. Es sah nie einen Berg, den Gardasee, die Hügel der Toskana oder den Radweg nach Wien. Es hätte 1992 so viel passieren können. Es passierte, dass es bei einem Altmetallcontainer abgeladen wurde. Woanders würde man es hineinwerfen – bei uns gibt es eine Verwertung, die rettet, was zu retten ist, und manchmal komme ich dort vorbei, und dann sehe ich es und denke daran, wie ich als Student in München keine 3000 DM hatte, um so ein Rad zu kaufen.
Entschuldigen Sie also, wenn ich als Freund des Velozipeds nur lachen kann über alle, die jetzt wieder einen neuen Anlass finden, das Rad zu propagieren. Sie haben recht, wie während der Ölkrise, während Didi Thuraus Radsiegen, wie beim Aufkommen des MTBs und jetzt, beim Siegeszug von 29er und Pedelecs. Es sind Moden, die alle dazu führten, dass nach dem Kauf erst einmal die alten, nicht benutzten Räder weggeworfen wurden. Heute bieten die Radhäuser bei uns wieder Verschrottungsprämien für alte Räder an. Es ist gut und richtig, absolut richtig, kurze Strecken mit dem Rad zu fahren, besonders in den Städten. Man ist schneller und macht die Städte schöner. Aber man muss es tun und ab und zu eben auch mal das Rad putzen, die Reifen aufpumpen, alle 200 km die Kette ölen und lernen, wie man eine Schaltung und Bremsen einstellt. Wenn man das nicht kann, wartet man im Sommer öfters mal einen Monat auf einen Termin im Radgeschäft, und wird dabei oft auch noch abgezockt.
Wäre man ehrlich, würde man ganz andere Dinge sagen: Quäl Dich, Du Sau. Der Regen macht Dir nichts, Du bist nicht aus Zucker. Schnee tut nicht weh. Wenn du in Deinem Alter nicht den Jaufenpass hoch kommst, ist es nicht zu steil: Du bist krank und musst etwas tun. Schraub das gefälligst selbst hin. Die Kette ist schmutzig, aber Du kannst Dir nachher die Hände waschen. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Er repariert sich nicht selbst. Tu was. Lerne erst mal, Dein Rad selbst auf die Reihe zu bekommen, vielleicht bekommst Du dann Dein Leben auf die Reihe. Schmerz ist nur Deine Schwäche, die den Körper verlässt. Klar bist Du pleite, wenn Du nicht mal die einfachste Dinge selbst machen kannst. Und, ganz wichtig: Überleg Dir vorher, ob Du das tun willst. Sonst endet das Rad wie Dein halber ungetragener Kleiderschrank.
Nichts davon ist geeignet, um bei Twitter die eigene moralische Überlegenheit gegenüber Autofahrern zu demonstrieren. Eigentlich müsste ich froh sein, dass nun auch andere Massenmedien das Richtige predigen, aber das da oben ist neben der Kette der Grund, warum das Rabe nicht mehr fahrbar war:: Im unteren Schaltungsrädchen hat sich ein Faden verfangen, der es blockiert. Man hätte nur eine einzige Schraube lösen müssen. Ich brauche 4, 5 Stunden, um es wieder zu dem Rad zu machen, das es einmal war, und ich sollte mich freuen. Es ist ein guter Tag für das Rad, für mich und die Bewegung. Aber innerlich koche ich, innerlich möchte ich die Erstbesitzerin eine dumme Nuss nennen und mich dann denen zuwenden, die nur Hass und Verachtung für ihre sparsamen Nachkriegs-Vorfahren übrig haben, die den Schimmel vom Brot schnitten und Räder jahrzehntelang pflegten, damit Geld für eine bessere Zukunft der Jugend da war. Manchmal sehe ich bei uns noch Damen der Gesellschaft, die beim Bäcker etwas vom Vortag nehmen, und dahinter die übernächste Generation im Hoodie von H&M, die ihren Coffee2Go-Becher auf die Strasse werfen, weil es zu stressig ist, vor der Schule daheim noch selbst Kaffee zu machen und anschließend die Tasse auszuspülen – man muss sich in der Quality Time informieren, was bei den Jugendportalen und Whatsapp an Peinlichkeiten steht. Oh, ein Beitrag ´über das Radfahren. Ja, Dieselpendler sind echt übel, das liken sie, damit jeder ihr richtiges biologisches Bewusstsein kennt.
Bald breche ich wieder in die Berge auf. Ich werde brandneue Pedelecs und Familien am Strand sehen, und steinalte Männer auf historischen MTBs und Rennmaschinen am Berg. Ob ich jemanden von Konkurrenzblättern oder ein menschliches Tugendsignal treffen werde, hoch oben über den Bäumen – das weiss ich nicht. Aber dann ist es egal, ein Zusammentreffen ist wirklich ohne jedes Risiko, denn die Wut, die mich treibt, die schwindet, wenn ich allein mit dem Berg bin, und das tue, wovon andere reden.