Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Wanderungen in der Mark der Anderswählenden

Jedem Besiegten wird es schwer, den Grund seiner Niederlage an der einzig richtigen Stelle, nämlich in sich selbst zu suchen.
Theodor Fontane

 

Die Flüchtlingsfrage. Da haben sie sich also am Wochenende geeinigt, die Unionsparteien. Wenn es nach dem Willen von CDU und CSU geht, soll die sogenannte Netto-Zuwanderung aus humanitären Gründen pro Jahr nicht mehr als 200.000 Menschen betragen. Dazu kommt ein ganzes Paket aus Vorhaben wie Flüchtlingsursachen bekämpfen, illegale Migration reduzieren, Schlepperkriminalität bekämpfen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Flüchtlingsfrage also, sie steht einmal wieder im Vordergrund der aktuellen politischen Debatten.

Die Flüchtlingsfrage, sie überlagert so vieles. Das dachte ich bereits vor zwei Wochen kurz nach der Bundestagswahl, als ich über einer Landkarte von Brandenburg saß und in Gedanken noch einmal, wie ich das 1998 ganz real tat, durch das Land reiste. Von Berlin aus in den Norden nach Neuruppin und Rheinsberg, dann in den Westen nach Templin, von da aus in den Süden über Eberswalde und Straußberg nach Cottbus und wieder hoch in den Norden über Potsdam und Berlin. Nein, die Sommerreise, die ich mit einer Kollegin unternahm, war kein Urlaub und auch keine Wanderung auf den Spuren Fontanes. Sie diente der Suche nach dem, was sich, ein knappes Jahrzehnt nach der Wende, getan hatte. Wie die Menschen dort leben, was sie denken, was sie fühlen, wie es ihnen ergangen ist.

Warum die Erinnerungen an diese Reise gerade so kurz nach der Bundestagswahl hoch kam? Ganz einfach: Weil gerade das AfD-Ergebnis der Bundestagswahl in Brandenburg mich an etwas erinnerte, was ich bereits 1998 wahrnahm: Dass es nämlich viele Probleme dort gab und dass die sich irgendwann, wenn sie nicht gelöst würden, in nicht allzu gutem Sinne Bahn brechen würden. Und genau das geschah bei der Wahl. Lag die AFD 2013 noch bei 6,0 Prozent, ist sie jetzt dort mit 20,2 Prozent zweitstärkste Kraft. 14,2 Prozentpunkte mehr also und die neuen Stimmen kamen nicht nur von ehemaligen CDU-Wählern und Wählerinnen.

Die Sommerreise also. Eine der wichtigsten Lehren, die ich daraus zog: Vielen ging es in den Gesprächen um ihre ganz eigenen Probleme. Um Arbeitslosigkeit, Abstieg, Armut, aber auch um die  nicht verarbeitete Vergangenheit. Und was auch eine große Rolle spielte: Das Gefühl, vom Westen überrollt worden zu sein.

Wir haben unter anderem mit Landwirten über die Schwierigkeiten geredet, sich eine neue Existenz aufzubauen, genauso wie mit Vertretern einer Arbeitsloseninitiative, deren Mitglieder jeden Montag demonstrierten und die doch wussten, wie sinnlos das ist. Wir waren in der Lausitz in einem kleinen Dorf, in dem viele Bewohner und Bewohnerinnen verzweifelt und doch vergeblich dagegen ankämpften, dass ihre Häuser dem Braunkohleabbau geopfert werden sollten. Der Gang bis hinauf auf höchste europäische Ebene war später erfolglos, der ganze Ort wurde abgerissen, die Menschen umgesiedelt. Sie fühlten sich mit ihren Problemen ganz einfach alleine gelassen.

Wir führten zudem Gespräche in einer Begegnungsstätte, in der Sozialarbeiter versuchten, trotz der damals hohen Arbeitslosenquote eine Perspektive zu bieten. Und sie versuchten das, was schon längst da war, zu bekämpfen: das rechte Gedankengut. Das trat auch bei der Unterhaltung mit den jungen Menschen offen zutage und war für uns Besucherinnen erschreckend. Gleich in der Nachbarschaft lebten viele Vietnamesen, wir sprachen mit einigen von ihnen. Sie fühlten sich nicht direkt bedroht, aber auch nicht willkommen geheißen. Kontakte zu Deutschen gab es kaum, man beäugte sich gegenseitig misstrauisch.

Für mich machte das damals alles den Eindruck einer Ruhe vor dem großen Sturm und die ist uns damals an vielen Orten begegnet. Die stillere latent in vielen Köpfen vorhandene Fremdenfeindlichkeit genauso wie der ganz offen zur Schau gestellter Rechtsextremismus. Nicht nur einmal empfand ich die bevorzugt zu mehreren auftretenden Glatzköpfe als bedrohlich.

Die Ausschreitungen 1991 in Hoyerswerda nahe der brandenburgischen Grenze  gegen Asylbewerber und Vertragsarbeiter und die 1992 im weit entfernten Rostock-Lichtenhagen, die vielen darauffolgenden Angriffe auf Asylbewerber und Asylbewerberheime, hatten ihre Saat bereits überall gelegt und sie war aufgegangen. Die vermeintlich Schuldigen an der eigenen Misere, die Ausländer,  waren gefunden, das sollte so bleiben.

Zurück in München beschloss ich zwar, an den vielen Themen, denen ich begegnet war, dran zu bleiben und nach ein paar Jahren die Fahrt zu wiederholen. Aber es war schließlich doch so, dass ich das aus den Augen verlor. Es gab zu viele neue Themen, zu viele neue Aufgaben, Brandenburg war irgendwann weit weg. Ich habe den Menschen nicht mehr zugehört. Dabei hatte ich durchaus den Eindruck, dass es gerade das ist, was sie brauchen. Ein Ventil, jemanden, der zumindest versucht, sie zu verstehen.

Als AfD und Pegida aufkamen und im Osten gleich sehr stark wurden, habe ich anfangs zwar noch stets gesagt und geschrieben, dass man auf die Leute zugehen müsse, dass noch nicht alles verloren sei. Dass man zwar die Hardliner nicht mehr überzeugen könne, aber vielleicht doch welche von denen, die Pegida zunächst nicht in erster Linie aus Protest gegen eine vermeintliche Islamisierung  zuliefen. Man befasse sich gar nicht erst mit ihren sozialen Alltagsnöten, so lautete mein Vorwurf. Aber da war es bereits zu spät. Eine Mehrheit an Journalisten, Politikern und eine Mehrheit in der Gesellschaft hatten sich bereits dafür entschieden, mit diesen Menschen nicht den Dialog zu suchen, sondern sie zu bekämpfen.

Dumm, zurückgeblieben, frustriert, ungebildet, undankbar ob des Segens der Wiedervereinigung, nicht fähig, die DDR-Vergangenheit zu verarbeiten – nur einige der vielen Negativworte und -wörter über die Protestierer. Dass die das nicht mit einer Umkehr goutierten, sondern darauf mit noch stärkerer Identifikation mit AfD und Pegida reagierten, lag auf der Hand. Was da geschah wollten bloß so viele nicht wahrhaben. Die neue Partei und Pegida taten das, was die sogenannten Etablierten versäumt hatten. Sie boten denen eine politische Heimat, die keine hatten. Das Abwerten und das Belehren, all das, was sie als Arroganz verstanden, war bei den Neuen nicht vorhanden. Dafür zuhören, Verständnis zeigen, sich an Stammtischen austauschen, Netzwerke im Arbeitsbereich bilden. Dass sie bei weitem nicht für alle politischen Probleme eine Lösung haben, fiel unter den Tisch. Zugute kam ihnen noch die sogenannte Flüchtlingskrise ab Herbst 2015. „Für die ist Geld und Aufmerksamkeit da, für uns nicht“, lautete ab spätestens da die Devise.

Apropos „Flüchtlingskrise“. Eine seltsame Allianz gab es die letzten zwei Jahre zudem in vielen Medien, bei vielen Politikern, bei vielen der „Refugees wellcome“-Menschen. Der Grundtenor: „Das schaffen wir schon“. Probleme, die schon längst in der Luft lagen, wurden totgeschwiegen. Wer wie ich und einige andere schon vor ein oder zwei Jahren darauf aufmerksam machte, dass man sich durchaus einmal Gedanken machen sollte wie das alles weitergeht, der wurde rasch in die rechte Ecke gedrängt. Nicht zuhören, verdrängen, das war die Devise. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der nötige Ausbau der Infrastruktur, der sich verstärkenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum vor allen in Großstädten, wurde kaum benannt. Genauso wenig wie der soziale  Sprengstoff, der in der drohenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt im Niedriglohnsektor liegt. Abgetan als Ängste „sozial Abgehängter“.

Nicht nur in Ostdeutschland, sondern im ganzen Bundesgebiet wurde auf diese Ängste in immer größer werdenden Teilen der Bevölkerung nicht eingegangen. Die Quittung dafür gab es am 24. September.

Fazit: Das ganze Geschrei von vielen Seiten gegen die AfD und deren Wählerinnen und Wählerinnen statt einer kritischen Analyse des eigenen Verhaltens hat also in der Tat wenig gebracht. Zu hoffen ist jetzt nur noch, dass es nicht so weiter geht. Dass gerade die Politikerinnen und Politiker wieder verstärkt auf die Menschen vor Ort zugehen, dass  sie zuhören, dass sie aber vor allem handeln.

Und was den Umgang mit den Neuen im Bundestag und in den Medien betrifft, da wäre eine Entmystifizierung ganz angebracht. Vielleicht hilft dabei ja auch der Blick von außen. Wie hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung kurz nach der Wahl so schön?

„Deutschland nützt die grosse öffentliche Aufregung … wenig. Wer über den Einzug von voraussichtlich 94 unerfahrenen, teils rüpelhaften, teils rassistischen, teils amateurhaften, teils ganz unauffälligen Abgeordneten der Alternative für Deutschland in den Bundestag schockiert ist, sollte das besser diskret für sich behalten. Denn lautes Lamentieren hilft der auf Skandalisierung und inszenierten Widerstand gegen die Etablierten angewiesenen Protestpartei nur.“