Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Berliner Schulpolitik als Fluchtursache in der 3. Welt

Jugend will, daß man ihr befiehlt, damit sie nicht gehorchen muß.
Jean-Paul Sartre

Da, schauen Sie mal, Jamaika! Sind die nicht drollig, die Politiker? Oder da, Österreicher, die nicht verstehen, was sie wählen müssen! Hübsch, nicht? Oh, und ein Sexskandal mit Hashtag! Das müssen Sie alles gelesen haben. Sie müssen doch nicht an so schwere, komplexe Themen wie Schule denken, das sind nur Nachrichten von letzter Woche, da lässt sich jetzt ohnehin nichts mehr ändern und… Ach? Sie sind doch unzufrieden, wütend, enttäuscht, weil die IQB-Studie genau das bestätigt, was Sie schon länger mit ihren Kindern erlebten? Also, wissen Sie, ich habe ja keine Kinder, ich lese nur manchmal Fragen junger Mütter aus Berlin oder Nordrhein-Westfalen, mit wem sie schlafen müssen, damit ihre Töchter auf eine gute Schule kommen. Also gut. Reden wir über den Schulbericht. Aber bitte mit dem richtigen Klassenstandpunkt.

Es sind ja nicht nur meine Bekannten, die in Berlin ein Problem haben, und mehr oder weniger still beim Versuch vor sich hin leiden, eine gute Schule zu finden. “Gute Schule” ist da ein Synonym für “niedriger Anteil an lernproblematischen Kindern mit MiHiGru”, aber das sagt man selten so deutlich. Es gibt manchmal, etwa nach der Bundestagswahl, einen wütenden Beitrag in der Bild über die Zustände in den Toiletten Berliner Schulen, und ich denke, da hat die Bild auch recht – das ist alles in einer Linie mit dem, was ich von sozial bewegten Müttern höre, die eher die taz lesen. Ich dagegen pflege keine Kinder, ich pflege einen wohlgeratenen Zynismus und Vorurteile. Ich sage, dass all die Freiheiten Berlins, die offenen Grenzen, die Spaliere von kommunikationsfreudigen Drogenhändlern, die letzthin in der ZEIT gelobt wurden, das Fehlen der Schlagstock- und Sozialkontrolle (außer bei fehlenden Gendersternchen) und die dort gelebte Seelenerziehung ohne Einflüsse westdeutscher Spießermoral, nun auch unvermeidliche Auswirkungen auf Verwaltung und Schulen haben. Man kann nicht erwarten, dass in so einer gelebten Freiheit Matratzen auf der Strasse entsorgt und Graffiti gemalt werden, und Ämter und Schulen gleichzeitig streng und effektiv die Kinder erziehen, wie ihre Eltern es daheim in Tübingen und Straubing erlebt haben.

Das Ergebnis ist, von der Höhe meines bayerischen Klassenstandpunkts aus betrachtet, dass Kinder, die in Berlin nach der vierten Klasse in die verbliebenen Gymnasien wechseln könnten, beim westdeutschen Bildungs- und erstaunlicherweise auch AfD-Spitzenreiter Bayern in die dritte Klasse zurückgestuft werden müssten, um den bis dahin erberlinerten Rückstand aufzuholen. Dort lernen sie zwar nichts über so wichtige Sozialkompetenzen wie “Puff für Alle” oder homosexuelle Genderorientierung. “Zuhören” ist in Bayern kein Kriterium zur Beurteilung von Schülern, sondern Grundvoraussetzung, wenn der Weg nicht direkt zum qualifizierten Hauptschulabschluss führen soll. Aber wer wirklich, wie so oft geäußert, nur das Beste für das eigene Kind will, müsste sich eigentlich fragen, warum er nicht konsequent ist und dorthin zieht, wo Schulen schon einen neuen Anstrich erhalten, weil die Schlossfarbe ein wenig ausgebleicht ist. So wie bei uns am Tegernsee.

Zugegeben, der Aufmarsch der Kinder in der ersten Klasse mit Dirndl und Lederhosen entlang der einzig bekannten Geschlechtergrenze ist jetzt nicht jedermanns Sache. Aber wenn ich wählen müsste, ob ich meiner Tochter ein rosa Dirndl kaufe oder mit einem Berliner Bildungspolitiker ins Be… also, ich wüsste, was ich dann täte. Ich erkläre das auch immer wieder meinen Berliner Bekannten, und darunter sind auch einige, deren Kompetenzen bei uns gesucht werden, denn wir haben Vollbeschäftigung. Die Antwort ist oft gleichlautend: Berlin sei nun mal billig, da könnte eine Alleinerziehende oder ein Paar auch mit wenig Geld, aber einer günstigen Sozialwohnung zwei Kinder erziehen. Das ist bei uns am Tegernsee – die Mieten liegen hier längst über 10€/m² und wer hier lebt, kauft ohnehin eher – kaum möglich. Früher habe ich das einfach so akzeptiert, aber wegen der neuen Schulstudie habe ich Zweifel, ob das gerechtfertigt ist.

Nehmen wir einfach mal Gmund am Tegernsee, wo diese entzückende Brücke voll mit Kindern über die Mangfall führt. Eine Wohnung, die lediglich durch eine parkartige Alm mit Seeblick von der Grundschule getrennt ist, kostet mit 100m² momentan 1100€. Das sind natürlich 600€ mehr als eine Sozialwohnung in Berlin, aber dafür bekommt das Kind auch eine Spitzenausbildung im deutschen Vergleich. Laut Studie liegen die Kinder in den schlechten Schulstandorten Bremen und Berlin in der vierten Klasse schon ein halbes Jahr zurück. Hat eine Familie zwei Kinder, ergibt sich in vier Jahren Grundschule ein kombinierter Nachholbedarf von einem Jahr. Da kann die Familie einfach zuschauen, und mit den langfristigen Folgen in Form von schlechteren Chancen bei Studium, Arbeitsmarkt und dem gesamten Dasein leben. Oder es steuert dagegen an, und bringt das Kind privat mit selbst geleisteter Nachhilfe auf den nötigen Stand. Bei uns ist die Miete zwar teurer, aber die bessere Schulbildung bekommt das Kind gratis von bayerischen Staat.

Wer bei uns arbeitet und einigermaßen normale Voraussetzungen hat, kommt leicht auf einen Stundenlohn von 20€ netto. Ein Paar erarbeitet die Differenz zur teureren Wohnung also in 30 Stunden pro Monat. Die beiden Berliner Kinder dagegen verlieren im Vergleich zu ihren bayerischen Gegenstücken bei 120 Monatsstunden rund jeweils 15 Stunden Lernleistung pro Monat – eine Lernleistung, die Berliner Eltern theoretisch selbst nachtragen müssten, nur damit ihre Kinder dann nach Berliner Vorstellungen verhasste Streber sind, und durch den Schulhof geprügelt werden. Die günstigere Miete in Berlin wird unter diesen Gesichtspunkten von der Eigenleistung der Eltern für das Schulversagen wieder aufgefressen. Vielleicht ist es auch einfach so, dass Berlin genau das in die kurzfristige Wohnungsförderung steckt, was Bayern in die langfristige Erziehung investiert. Und sage mir bitte keiner, die Grosseltern in der westdeutschen Provinz würden in solchen Heimkehrfällen nicht gern die ein oder andere Wohnung verfügbar machen, oder zumindest mit Geldscheinen diese Einsicht honorieren.

Andere Aspekte sieht so eine Untersuchung erst gar nicht, aber ich möchte darauf verweisen, dass man sich am Tegernsee teure Urlaube in den Bergen sparen kann – man wohnt schließlich schon dort, wo andere sich den Urlaub nicht mehr leisten können. Natürlich entwickeln sich Kinder anders, wenn um sie herum kein Moloch einer Stadt ist, sondern ein Naturschutzgebiet. Natürlich sind Kinder erheblich gesünder, wenn weniger CO2 und Feinstaub in der Luft ist, und natürlich sind sie entspannt, wenn der Spielplatz zum Spielen da ist, und nicht als Lager für zerbrochene Flaschen dient. Außerdem ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern deutlich besser, wenn das unangenehme Lernen in die Schule ausgelagert wird, und die Eltern keine Nachhilfelehrer, sondern nur für die Gaudi da sind. Neigungsgruppe Kajak und ein Schulstrand beim späteren Gymnasium Tegernsee sind zwar nicht so wild wie Sprayerkurse in Berlin, aber es gibt nun mal bestimmte Klagen von Eltern, die ich hier in den Bergen noch nie gehört habe, und aus Berlin dauernd lese.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich besuchte ein bayerisches Elitegymnasium, das schon Ende der 12. Klasse mit dem Abiturstoff mehr oder weniger durch war, und das uns in den MINT-Fächern noch zu Inhalten jenseits des Lehrplans peitschte, die ich nie brauchen sollte. Bei uns konnte man vor versammelter Mannschaft gedemütigt werden, wenn man nur einen Zettel mit Tesa an eine Glastür hängte. Es gab nur Frontalunterricht und teilweise sadistische Lehrer, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Der Drill, den wir damals erlebten, war definitiv zu viel, und ohne die damals übliche Freiheit am Nachmittag wäre das System kaum auszuhalten gewesen. Auch das damalige System hat kleine, brutale Bestien hervorgebracht, die einem von hinten den Hockeyschläger über den Kopf schlugen. Und ich, der ich Sie heute hier beplaudere, war in Deutsch wegen meiner nicht erwünschten literarischen Phantastik ein ausgesprochen schlechter Schüler, weil ich von den Normen abwich. Es ist schon gut, dass es die bayerischen Gymnasien unter Strauss nicht mehr gibt, die Kinder nur betrichterten und kaum in ihren Eigenheiten förderten. Berliner Freiheiten und Unterrichtsausfälle wären bei uns unvorstellbar gewesen.

Aber auf der anderen Seite sieht man jetzt, dass das gegenteilige Extrem mit Schreiben nach Gehör, Abschaffung von Noten, Inklusion und Betrachtung von Schulen als Kostenfaktoren mit gleichzeitiger Sozialisierung der Defizite auch nicht gut ist. Man hätte den Druck, den ich zu spüren bekam, schon damals durch den Wechsel auf eine andere Schule beenden können, und Debatten um gute und schlechte Schulen kenne ich hier auf dem Land nicht: Es gibt hier im Hintergrund ein rigides Kontrollsystem der Schulen, das Berliner Verhältnisse verhindert, lange bevor sie entstehen. Dafür haben wir hier keine Späties und kein Berghain und statt der Volksbühne nur Bergfilmtage. Es ist anders, weil es ein anderes Land ist. Aber wenn ich das Schicksal meiner Kinder wirklich ins Zentrum meiner Bemühungen stellen würde, verstünde ich nicht, wie man denen ein anerkannt und nachweislich schlechtes System zumuten kann, das in einer von Bildung abhängigen Nation wie Deutschland eine lebenslange Benachteiligung zur Folge haben wird. Zumal, wenn es 600km weiter südlich ganz anders ist.

Natürlich importiert man mit Berlinern ein gewisses Risiko, wie Berlin zu werden, weshalb dieser Beitrag bei meinen bayerischen Mitmenschen nicht ungeteilte Zustimmung finden wird. Aber ich habe keine Zweifel, dass nur die wenigsten dem Ruf folgen werden, denn in Berlin regt man sich über die Zumutungen einen Tag lang auf, um die restlichen 364 verächtlich auf Regionen zu schauen, die nicht so frei und aufgeklärt sind, und mit mehr Geld die Berliner Misere beheben sollen. Abweichler fallen schnell der Damnatio Memoriae anheim. Und dann gibt es dort noch all die Privatschulen, die es erlauben, später unbeschwert von persönlicher Erfahrung und verprügelten Kindern darüber zu urteilen, welche Beurteilung von Migration und globaler Fairness jene ist, die man zu vertreten hat, um so im einzig wahren Konsens zu sein.

Die sozialen Methoden der grossen Freiheit in Berlin wirken natürlich nur zufällig wie der ideologische Drill an einem bayerischen Provinzgymnasium unter Strauss.