Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Auf der Suche nach der verlorenen Gesprächskultur

1934 durfte Karl Radek, Pseudonym “Parabellum”, richtiger Name eigentlich Karol Sobelsohn und aus einer jüdischen Familie im damaligen Österreich-Ungarn stammend, als sowjetischer Kulturfunktionär eine Rede halten. Erlaubt hatte ihm das ein gewisser Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, der sich damals aber schon Josef Stalin nannte, und das Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion bekleidete. 1929 hatte sich der frühere Trotzki-Anhänger Radek Stalin unterworfen und ihm die Treue geschworen, weshalb er als bei der Ersten Konferenz der sowjetischen Schriftsteller seine Meinung vortragen durfte. Über Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust – der nur Pseudonyme verwandte, wenn er selbst Kritiken über seine eigenen Bücher schrieb – sagte Radek also 1934:

In Prousts Seiten liegt die alte Welt wie ein alter, nutzloser Köter sonnenbadend herum und leckt endlos ihre Wunden.

Das war gegenüber Proust und seinen elfenzarten, elquenten Romanfiguren sehr unhöflich.

So also urteilte also Radek im Sinne Stalins über Marcel Proust, den Schriftsteller und Beobachter der Großbourgeoisie, über den asthmatischen Sprössling einer katholisch-jüdischen Familie, der die Erstveröffentlichung seines Romanwerks “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” selbst bezahlte, und über einen verzweifelten Sucher, der nach einem wenigstens finanziell abgesicherten Leben mit unglücklichen Beziehungen zu Männern, Depressionen und chronischen Krankheiten 1922 gestorben war.

1937 ließ dann Stalin seinen Untertan Radek in einem Schauprozess wegen seiner alten Beziehungen zu Trotzki anklagen, ihn einfach so – es war schließlich die Zeit des Stalinismus – von seinem privilegierten Posten absetzen, zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilen und nach Sibirien verbannen, wo Radek 1939 ums Leben kam – bis heute ist nicht geklärt, ob der Kommunist von anderen Opfern seiner eigenen Politik im Sinne Stalins oder von Stalins Schergen umgebracht wurde.

Was ich daraus gelernt habe, ist zweierlei: Sozialismus ist noch ungesünder als Asthma. Und es ist gar nicht so schlecht, nach der Meinung Dritter wie ein alter, nutzloser Köter sonnenbadend herum zu liegen und endlos seine Wunden zu lecken, denn man kann auch in Sibirien in einem Arbeitslager jahrelang schuften, bevor man ermordet wird. Langfristig hat sich übrigens auch nicht die Beurteilung durch Radek für Prousts Werk durchsetzen können, Radeks Bücher wie “Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der kommunistischen Parteien im Kampfe um die Diktatur des Proletariats” sind heute, um es großbürgerlich höflich zu sagen, allenfalls noch einem kleinen Publikum eingeweihter Kenner ein fester Begriff. Und auch dort ist man, zumindest im sozialistischen Deutschland, vielleicht nicht mehr ganz so gut auf Radek zu sprechen, der zwischenzeitlich auch einmal mit einem Schulterschluss mit völkischen Kreisen gegen das Bürgertum liebäugelte – während man Proust höchsten vorwerfen kann, er habe sich in seinen Chauffeur nicht klassengerecht verliebt.

Ach so, und sein Duell mit einem Kritiker. Und seinen Umgang mit damals ziemlich verrufenen Leuten wie Andre Gide, der später sehr kritisch über die Sowjetunion schreiben sollte. Außerdem, das muss man wohl so sagen; war Proust nicht wirklich an einem sozialen Ausgleich zwischen den Klassen interessiert, und gewisse Aspekte der Dekadenz finden sich tatsächlich in seinem Werk. Also, wenn man ganz ehrlich ist, würde man jetzt nicht zwingend im bürgerlichen Kontext einen Sohn haben wollen, der vollumfänglich und selbstzerstörerisch wie Proust lebt – besser als ein berufsrevolutionärer und menschenverachtend mörderischer Radek ist ein Proust schon, aber die Frage würde sich natürlich stellen, ob ein Sohn seine Extravaganzen nicht ein wenig eingrenzen könnte. Trotzdem, in durchaus bürgerkritischer Buchform ist Proust im Bürgerhaushalt immer willkommen, und einem Schriftsteller verzeiht man in einem Akt kultureller Großzügigkeit vieles, was andernorts für gehobene Augenbrauen sorgen möchte.

Man könnte die Liste derer, die das Bürgertum letztlich mit all ihren Gehässigkeiten freudig übernommen hat, fast grenzenlos erweitern. Norman Mailer. Friedrich Hollaender. Pitigrilli. Stefan Heym. Evelyn Waugh. Lion Feuchtwanger, übrigens trotz seines stalinfreundlichen Werks über Russland. Andre Gide. Heinrich Heine. Kurt Tucholsky. Ludwig Börne. M. G. Lewis. Byron. Diderot. Die Berüchtigten von einst, sofern sie sich wuschen, Villen und Paläste nicht niederbrannten, sondern friedlich bewohnten, und ihre mörderischen Adern soweit im Zaum hielten, als dass sie ihre bösen Instinkte in zitierbare Sätze umleiteten, sie alle waren willkommen. Manche hatten es nicht mit Frauen und Familien, und manche konvertierten später zum Katholizismus. Mit literarischer Verehrung der Germanisten eingespeichelt und später als Schullektüre zerkaut, hat das Bürgertum noch die meisten Kritiker als neue Würze für den jeweils alten Kanon gefressen. Und letztlich nur die Radekknochen den Geiern überlassen, auch wenn Radek im Kontext mit seinem eigenen Schicksal unfreiwillig etwas bürgerlich Zitierbares mit dem Satz über Proust geschrieben hat. Grosso modo aber: Vorne kommen die Fortschrittlichen hinein, hinten fallen die Veralteten und Peinlichen heraus.

Man kann diesen bürgerlichen Geschmacksopportunismus, gepaart mit politisch angemessener Verdrängung früherer Fehler, mit Inbrunst hassen, und auch heute noch sagen, dass diese Welt veraltet ist, zu wenig von der Zukunft annehmen will, und melancholisch-sinnlos auf Vergangenes zurückblickt, während die Insekten sterben und Themen wie Sexismus kaum beachtet werden. Momentan bekommt unsereins das wieder vermehrt ab, weil wir in Verdacht stehen, in den düsteren Ecken des bürgerlichen Kanon habe noch zu viel “Völkisch-Nationalistisches” überlebt, ja das Unerwünschte würde sogar in Form neuer Bücher von der radikalisierten Mitte dazu gebestsellert, was uns dazu triebe, falsche Wahlentscheidungen zu treffen, so wie es der in Deutschland gescheiterte Revolutionär Radek nach den linken Putschversuchen der Weimarer Republik auch gesehen hat. Wir würdigten den Einsatz der tapferen Verteidiger der richtigen Meinungen auf der Buchmesse nicht, und sollten uns so verhalten, dass man wieder mit uns redet, damit wir die richtige Meinung erfahren, übernehmen und dann selbst verkünden. Wir räudige Hunde, die wir am Tegernsee in der Sonne sitzen und nicht damit klarkommen, dass unsere Zeit abgelaufen ist.

Gern übersehen wird natürlich, dass Proust seine Suche der verlorenen Zeit aufnahm, als die beschriebene Epoche schon in den Schützengräben des 1. Weltkriegs untergegangen war, und seine Leser wussten, dass diese Epoche nicht mehr wiederkehren würde. Sie haben, das hat Radek nicht begriffen, in der nichtkommunistischen Welt einfach andere Schlussfolgerungen gezogen, um zu überleben. Der Komintern übernahm Radeks Linie und begnügte sich damit, diese Weltsicht den immer gleichen Anhängern einzureden. Mit den anderen nicht reden, die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zu bezeichnen, den eigenen Willen mit Gewalt durchsetzen, das alles waren keine erfolgreichen Strategien, aber immerhin haben sie dazu geführt, dass man sich auf Seiten der Kommunisten betreffs der Anderen einig war. Wer doch diskutieren wollte, oder nur verdächtigt wurde, andere Meinungen zu hören, wurde gesäubert. Aber, Ironie des Schicksals, dadurch wurden die Verfolgten auch verdaulich für den bürgerlichen Kanon, wie etwa Ilja Ehrenburg. Denn das Bürgertum lächelt nicht nur den eigenen Dissidenten hold zu, sondern auch den Dissidenten der anderen – nie aber deren Linientreuen.

Das Mittel der gesellschaftlichen Säuberung – auch das lernt jeder, der einmal die gesammelten Werke Radeks, das Neue Deutschland und die hamburgisch-antibürgerlich-schlechtgelaunten Publikationen beiseite lässt und Proust oder Gide liest – ist in diesen dominierenden Kreisen immer noch die Nichteinladung anstelle der Ausmerzung. Auch das ist wirksam, und nichts befördert diese Haltung so sehr wie die Verweigerung eines Gesprächs, denn was soll man mit unhöflichen und schlecht erzogenen Leuten reden, die nicht reden wollen. Da entstehen dekadente Salons ohne Überschneidungen, ohne Austausch, ohne Bereitschaft, dem anderen eine geistreiche Bemerkung oder einen funkelnden Gedanken zu gönnen. Zum Ausschluss muss man gar nicht mehr die Tochter der Gastgebers verführen, es genügt, wie im Frankreich der Dreyfus-Affaire, dass man in Verdacht gerät, die falsche Seite nicht falsch genug ´zu finden. Radek hat nicht verstanden, dass der Kommunismus die schlechtesten Seiten der Alten Welt, die Proust beschrieb, auf einer anderen Ebene fortführte. Und 80 Jahre nach der Verurteilung von Radek gibt es immer noch welche, die denken, eine möglichst intensive Beschallung mit der einzigen Wahrheit, an die man präzise zu glauben habe, würde etwas helfen.

So funktioniert Proust nicht, und das Bürgertum auch nicht, zumindest nicht so lange, als man es nicht in einen Gulag sperren kann. Natürlich sieht die Bourgeoise aus wie ein alter Hund in der Sonne, aber der Eindruck täuscht – im Inneren gibt es Bewegungen, Debatten, widerstreitende Ansichten und manchmal auch eine gewisse Bissigkeit, die man solchen Leuten gar nicht zutrauen würde. Dafür weiß der alte Hund augrund seines langen Lebens, was verdaulich ist, und was nicht. Manchmal möchte er gestreichelt werden, manchmal will er seine Ruhe, und manchmal ist er brennend eifersüchtig – etwa, wenn darüber nachgedacht wird, wie man den nächsten Hund gut behandeln will, der da bald aus südlichen Regionen kommen wird. Oder wenn man gar zur Entscheidung kommt, solche alten Hunde seien nicht mehr stubenrein, die könnten weg.

Radek wurde verurteilt und umgebracht, die Schriftsteller, an die er sich wandte, nahmen sich sein Urteil zu Herzen und schrieben für schlechte Privilegien und Hungerlöhne Zeug auf gilbendes Papier, das nach Stalins Tod gesäubert wurde, oder bei uns nach 1989 erhältlich blieb, aber nun mal kaum mehr gelesen wird. Die Dogmatiker verschwinden, aber die Plauderer, die sich seitenweise über ein Kleid an einer schönen Frau freuen können – sie bleiben.

Also, bitte, natürlich muss niemand reden. Ich kann auch schweigend meine Biedermeierdamen bewundern und Proust lesen, und zuschauen, wie das Europa, das wir einmal kannten, wie die alte Sowjetunion zerbricht, weil man öfters mal denkt, man müsste nicht reden, und könnte andere ausgrenzen, entmachten und wegsperren.