Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der identitäre Reichsbürgereintopf für weltoffene Städter

Brava, cosa rara!
Don Giovanni

Wer historisch überleben will, und das nicht nur mit der nackten Haut, sondern angenehm und privilegiert, kommt nicht umhin, sich zu überlegen: Was ist historisch betrachtet variabel und volatil, was ist beständig, und wie bleibe ich auf sicherem Boden, der mich trägt? Manche glauben, die Nation sei so ein verlässlicher Orientierungsrahmen, aber wie man in der UdSSR, Spanien oder Schottland sieht, muss das nicht sein. Schuld am möglichen Auseinanderbrechen in Deutschland sind nicht Separatisten, die bei uns von einem starken Südstaat und einer abhängigen, unterentwickelten Nordkolonie vom Main bis an die Überflutungsregionen der Nordsee träumen, sondern schon heute die unterschiedliche Handhabung des angeblichen Rechtsstaates, vor dem alle ungleich sind. Denn in Berlin können Sie mit 15 Gramm Gras wieder straffrei durch den Görlitzer Park ziehen und dergleichen als zugewanderter Händler auch anbieten. Bei uns in Bayern dagegen können Sie als Zuwanderer eine Hausdurchsuchung erleben, bei der überhaupt keine Drogen gefunden werden, und trotzdem wird zwischen den grünen Wiesen überlegt, wie man den vorab schon ausgestellten Haftbefehl gegen Sie nicht doch umsetzt.

Ein Land, ein Rechtssystem, zwei Auslegungen, und vermutlich bald acht Fernbustickets von Traunstein nach Berlin, wenn die Betroffenen schlau sind: Dafür ist Traunstein auch ein reizendes Örtchen im Chiemgau und so sauber, wie Berlin dreckig ist. Das eine einige Deutschland Vaterland, das gibt es nicht – und ich würde in der historischen Betrachtung nicht darauf wetten wollen, dass der Staat oder die EU in 50 Jahren noch da sind. Manche wünschen sich ein Deutschland wie in Berlin, andere hätten gern eines wie in Traunstein, die einen leben mit hoher Sozialhilfequote und die anderen mit Vollbeschäftigung, die einen wollen Staaten abschaffen und die anderen ihre Identität behalten, die einen reden über das, was der Deutschlandfunk willkommenskulturell fordert, die anderen haben Radio Alpenwelle fest im Autoradio eingestellt. Die einen sieht man in den Medien, die anderen sind schon immer da. Die Nation bröselt zwischen diesen Polen vor sich hin, weil niemand Interesse hat, da noch das Gemeinsame zu finden. Ich würde mich also rein aus Eigeninteresse nicht auf die marode Bestandsnation als Garant für gehobene Lebensansprüche verlassen.

Was jedoch immer Bestand hatte, war die Trennung der Gesellschaft in Eliten und Benachteiligte, und durch alle Zeiten kann man festhalten, dass es sich bei den obersten 10% gut gelebt hat. Auf einen Don Giovanni kamen ein Leporello, drei Masettos und fünf Zerlinas, weshalb man meines Erachtens auch Verständnis haben muss, wenn Don Giovanni hin und wieder – da’s ihm gleich ist, ob sie bleich ist, ob sie bettelt, oder reich ist, nimmt er Weiber jeder Art und Sorte – klassenübergreifend bereit war, anderen ein Bankett zu bereiten: Auf zu dem Feste, froh soll es werden, singt Don Giovanni, und dass alle wild durcheinander tanzen sollen. Denn so eine Zerlina und so ein Masetto, die hatten früher wenig zu lachen, die Winter waren ohne Klimaerwärmung kalt, und die Ernährung der Gente Plebea gestaltete auch eher eintönig. Ich weiss das, nicht aus der eigenen Familie, aber weil ich zu viel Besteck habe, um es noch in Schubladen unterzubringen: Das Tafelsilber für den täglichen Gebrauch liegt bei mir in einer Schüssel aus Südtirol.

Die Schüssel ist ein Geschenk meiner Grosstante, deren Küche sie lange Jahre zierte. Wie es in ihrer Zeit eben so üblich war, reiste man im Sommer in die Berge, und sobald man sich ein Motorrad oder ein Auto leisten konnte, auch über die Berge, nach Südtirol, wo es schöner und wärmer ist. Ganz Deutschland reiste damals entweder nach Rimini oder nach Meran, und nahm mit kleinen Kammern in Pensionen vorlieb, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann: Ohne WLAN und fliessendes Wasser. Ich kenne das übrigens noch aus meiner eigenen Kindheit, und es hat mir nicht geschadet, ganz im Gegenteil, ich mochte das. Damals jedoch, als die Schüssel in den Besitz meiner Grosstante gelangte, war das Fehlen des Komforts noch obligatorisch: Wer wandern wollte, gab sich mit dem schönen Wetter zufrieden, und achtete ansonsten nicht sehr auf die Gebräuche des gutbürgerlichen Alltags daheim.

Jedenfalls, meine Tante wohnte damals im Sarntal zwischen Sterzing und Bozen, recht weit oben, in einem abgelegenen Bauernhof, und fand dortselbst Gefallen an der Schüssel, die in der Küche aufbewahrt wurde. Wie das eben so ist, mut gebrauchten Schüsseln: Man benutzt sie erst auf dem Tisch und dann,. wenn sie nicht mehr brauchbar sind, zur Speisenbereitung. Diese Schüssel jedenfalls ist gross, fasst gut und gern zwei, drei Liter Inhalt, und war früher das gute Stück der Tiroler Familie, das auf den Tisch gestellt wurde. Da kam der zusammengekochte Brei hinein, und dann löffelte jeder mit seinem individuellen Löffel heraus, was er erhaschen konnte. Die Gier und der Hunger jedenfalls waren so gross, dass die gesamte Glasur im Bodenbereich abgekratzt und angeschabt ist, und der nackte Ton hervorschaut. So gross war früher der Hunger dort oben im Sarntal, dass man lieber Lasur wegkratzte, als Essensreste in der Schüssel zu lassen.

Es war nicht alles gut in der alten Zeit, wenn man nicht bei den guten Leuten lebte, und als meine Grosstante die Schüssel sah, war das Schlimmste schon vorbei. In Deutschland konnten sich schon normale Menschen, Stück für Stück, jene Porzellanservice mit Goldrand leisten, die momentan gnadenlos aussortiert werden, weil man sie nicht in die Spülmaschine stecken kann. Schüsseln auf dem Tisch gerieten aus der Mode, statt dessen kamen kleine Suppentassen auf, die nachzufüllen waren, so gering war ihr Inhalt, und so schnell änderten sich die Essgewohnheiten mit dem Wirtschaftswunder. Auch in Südtirol hielt das Massenporzellan seinen Einzug, und die alte Irdenware wurde in die Küche verbannt. Die Zeiten waren so weit, dass meine Grosstante um die alte Schüssel bitten konnte, und sie auch erhielt. Solche Schüsseln werden heute noch eher als Küchenzier für Touristen produziert, aber ich, Kind Bayerns, habe damit auch noch das Kochen gelernt: Deshalb habe ich so viele alte Tonschüsseln in meinen Küchen. Weil sie von der Tomatensuppe über die Kürbistarte bis zum gefüllten Omelett wirklich praktisch bei der Zubereitung sind. Gegessen wird natürlich von Porzellantellern aus dem Wirtschaftswunderbestand von 1880 oder 1960. Und mit Messern Löffeln, Vorlegegabeln, Käsemessern und Gabeln in diversen Grössen, die in der alten Südtiroler Schüssel liegen.

Und fast immer denke ich an meine Grosstante, die darin das Besondere erkannte, und an den Hunger und die Armut der Menschen, die sie zwangen, den Boden abzukratzen. Ich bin Atheist, ich bete nicht, aber ich bin dankbar, so weit oben in der globalen Entwicklung zu stehen, dass ich mein Essen und die Tafelfreuden selbst bestimmen kann. Das ist ein enormer Luxus, den wir da im Vergleich zu unseren Vorfahren haben, und gemeinhin sollte man denken, dass alle sich der Erkenntnis anschliessen und den uns zur Verfügung stehenden Überfluss an Nahrung, Besteck, Tischtüchern, Servietten, Porzellan und Bleikristall zu schätzen wissen. Irgendwelche unserer Vorfahren haben irgendwann auch mal so eine Schüssel voll mit Brei gemeinschaftlich mit dem Löffel in der Faust, die orale Futteröffnung nah an dem dampfenden Mahl, mit Inbrunst und Fressneid geleert, und hätten sich über ihre spätesten Nachfahren gewundert, die das Muranoglas von der Hochzeitsreise der früheren Nachfahren auf den Flohmarkt tragen.

Wir sind weit gekommen. Nebenbei, weil wir hier gerade so ein Muranoschüsselchen sehen. Kennen Sie Bowls?

Das ist jetzt der Trend unter jenen, die vom Hab und Gut ihrer Vorfahren nichts mehr wissen wollen. Junge, urbane Eliten lassen sich im Restaurant Schüsseln hinstellen, mit allerlei, das gesund ist und in die grosse Gattung der Breispeisen gehört, und löffeln das dann aus. Es ist noch nicht völlig zusammen gekocht, wie man das früher machte, sondern nur so halb, wie man das früher machte, wenn einem im langen Germanenwinter das Brennholz ausgegangen ist. Dazu kommen sog. “Dips”, die auch wieder eine Art Brei sind. Gerne werden historische Getreidesorten verwendet, aber niemals etwas mit Weizen. Gesalzen wird vorsichtig, und Zucker gibt es so wenig wie in jenen Zeiten, da man dieses weisse Gold noch in Silberdosen wegsperrte. Bowls sind gesund, höre ich, und umweltverträglich, nehme ich an, denn ein Löffel spült sich leichter ab als ein ganzes Bestecksystem für drei Gänge. In der Küche stehen Leute, die genau wissen, was man in einen Menschen tun muss, dass er die Tage in der Stadt so überlebt, wie der Bergbauer früher den Winter: Modisch abgehungert und fettarm und einer Lebenserwartung, von der ich als Historiker weiss, dass sie Alzheimerausbreitung durch Frühabsterben keine Chance geben wird. Selten ein Schaden, wo kein Nutzen dabei ist, sagte meine Grossmutter immer.

Was haben wir noch gelacht, als wir früher die Rechten verspotteten: Deutsche, esst deutsche Bananen! Niemals hätten wir gedacht, dass die neuen Linken uns später einen fast echt arischen, antiallergenen, laktose- und glutenfreien Urkornbrei empfehlen würden. Wir kommen aus Epochen, die von unserem Luxus nur träumen könnten, und dann sitzen junge Menschen in überteuerten Schnellrestaurants und schicken sich per Instagram Bilder von Schüsseln, Löffeln und Breisorten, denen ihre Urgrosseltern glücklich entgangen sind. Ich weiss, Bowl-Esser fühlen sich als die Spitze der Entwicklung der aufgeklärten Gesellschaft, aber eigentlich würde ich so einen Rückfall zum Brei in Schüsseln eher bei der deutschidentitären Bewegung auf Thüringer Rittergütern erwarten. Der Reichsbürger träumt davon, dass er in seinem Bunker so etwas aus seinen Notrationen löffelt, während draußen der Endbürgerkrieg tobt. Auf der langen und rückschlagsreichen Entwicklungsleiste von der Erbsensuppe in der Armee seiner Majestät/Reichswehr/Wehrmacht/Bundeswehr und den jeweiligen Näpfen bis zu Baccarattellern für mit Gesellschaftsfinger angepiekste Salatbeilagen ist die Bowl jedenfalls näher an Schützengräben und Baracken, denn an Villen und Schlössern. Der Vergleich mit der Südtiroler Bauernschüssel ist da noch schmeichelhaft. Ich habe mir das letzte Woche in München angeschaut, die Entwicklung des Menschen geht da nicht zum Höheren, sondern zur Gleichzeitigkeit von Napfleerung und Handy-Whatsapp-Füllung. Das geht nur mit einem Löffel und einer Schüsel, bei der mittels Schwerkraft das Essen aufgeschaufelt und walhalla-style in Mund gestopft werden kann.

Stetig muss sich unsereins überlegen, wie wir an der Spitze bleiben und den sozialen Abstand erfolgreich bewahren, bis wir einer Zerlina vorsingen können, sie solle auf das Schloss mit einem kommen, sie könnte nicht widerstehen, es sei nicht weit von hier. Die Harvey Weinsteins häufen dazu Macht und Geld an, aber es scheint mir, als sei das vielleicht gar nicht zwingend nötig: so, wie sich der Nachwuchs heute auch bar aller Ambitionen mit Business-Appartments zufrieden gibt, für die Ikea dann ein komplettes Möbelstystem liefert – genauso hat er das mit Messer und Gabel und Gängen und Konversation am Tisch erlebt, und als unpassend empfunden. Nun fällt er zurück in den oralen Tiefflug über der Schüssel mit dem Löffel zu des Grossvaters Weltensbrandbohne, und wie seinem Ahnherrn unter dem urgermanischen Reetdach gereicht ihm das auch zur Zufriedenheit. Er dankt vorher nicht mehr Gott – oder Odin? – für das Brot, aber vielleicht gibt er dem serbischen Essensausfahrer 50 Cent Trinkgeld. Schnell muss es gehen, praktisch muss es sein, und es ist ganz anders als alles, das ich in der guten Kinderstube gelernt habe. Es ist fraglos diese Diversity, von der man momentan so viel hört.

Und es ist gar nicht so schlecht, wie man meinen sollte, denn es entbindet unsereins vom erbitterten Zwang – keine Ruh bei Tag und Nacht, nichts mehr was mir Freude macht – mit den anderen nach vorne in eine bessere Zukunft zu marschieren, die uns dann gleicher macht., als es den gerne Ungleichen gefallen könnte. Ich schreite in meine Zukunft voran, ohne an den Tischsitten zu rütteln, die anderen werfen das alles weg und loben die Schüssel, in der alles zusammen gekippt wird. Rafinesse und Kapriziertheiten für die einen, Schüsseln und Näpfe für die anderen – wenn wir uns alle einig sind, dann steht einer guten Zukunft in einer Region bei einvernehmlicher Teilung der Klassen eigentlich nichts mehr in jenen Wegen, die sich fürderhin überscheidungsfrei trennen werden.