Schaut auf diese Stadt!
Ich belüge die R. schamlos mit der Behauptung, die französische Tarte Tatin sei eigentlich eine bayerische Erfindung und hiesse bei uns G’foina Apfekuacha. Als solcher sei er schon im 18. Jahrhundert bei uns bekannt gewesen, wo ihn erst durchreisende Soldaten Napoleons entdeckt hätten. So vergeht der Abend der Stützen der Gesellschaft im Grosz.
Auch nach 2 Stunden Überziehen hat der Roadster nachher keinen Strafzettel, dafür wird später im “Lass uns Freunde bleiben” ganz offen geraucht, vermutlich, weil Raucher noch nicht wie in Bayern ausreichend diskriminiert und physisch attackiert werden. Ich bringe die R. später heim und stelle fest, dass die Tiefgarage hier schon um 23 Uhr schließt. Deshalb bin ich um 8 Uhr morgens schon wieder auf der Strasse vor dem Hotel und lese, dass hier auf einem bunten Einwegplakat gegen den Climate Change gekämpft wird:
Der Klimawandel in Berlin wirkt vermutlich schon, anders kann ich es mir nicht erklären, wieso hier im Januar immer noch Blätter fallen und liegen bleiben, die bei uns in den Bergen bereits im Oktober von den Bäumen gefallen sind, und im November restlos weggereinigt wurden.
Auf einem Verteilerkasten steht gut sichtbar ein Fläschchen von Sekt aus der DDR, und es ist noch halb voll.
Nebenan wirft ein junger Mann in Warnweste ein früher mal schönes, jetzt aber ramponiertes Eddy Merckx Corsa Extra Rennrad in Blau, so wie ich eines in Rot habe, an die scharfe Metallkante eines Metallgitters. Das Oberrohr macht einen schrecklichen Laut, dann schlingt er eine blanke Kette um das Rad. Ich steige in den Wagen und fahre ihn hinunter in die sichere Tiefgarage. Was halt sicher so ist, wenn da steht, aus versicherungstechnischen Gründen sei der Zugang nur mit Parkschein erlaubt – an einem Zugang, der mit zerbrochenen Scheiben so aussieht.
Im Hinterhof gibt es eine kleine Sitz- und Spiellandschaft, mit der jemand wohl noch in den Zeiten der Mauer den Westberlinern etwas Gutes tun wollte. Zudem gibt es dort praktischerweise Abfalleimer. Trotzdem steht ein Einwegbecher mit der Aufschrift “Für alle, die genießen wollen” auf dem Brett für alle, die Mensch ärgere Dich nicht spielen wollen.
Der Abfalleimer ist keine 5 Meter entfernt, ich werfe den Bescher weg. Auf der Tischtennisplatte, der längst das Netz fehlt, modert ein alter Prospekt, darunter sind die Reste der Neujahrsfeierlichkeiten. Heute ist der 19. Januar, in meiner von der CSU und einem Klimakillerbauer dominierten Heimatstadt kam am 1. Januar um 8.12 Uhr die Straßenreinigung und hat alles sauber gemacht.
Reinigung jede Woche heißt es bei uns, Jam every Day heißt es hier auf dem Sticker über dem zersplitterten Sicherheitsglas.
Daneben ist eine Sitzgruppe: eine offensichtlich obdachlose Frau ist dort, in ihren Parka eingehüllt, und hat ihre Besitztümer in einer Plastiktüte neben sich. Kein Photo an dieser Stelle. Gegenüber laufen im Wirtschaftshaus die Daten von der Berliner Börse über den Grossbildschirm, die Chefin der Weltbank sagt irgendwas.
Vor dem Wirtschaftshaus steht ein Baum. Jemand hat Stücke der Rinde auf blaues Plasik geklebt, und dort deponiert, Das muss schon etwas länger her sein, und noch jemand hat dazu ein paar Plastikeimer gestellt.
Daneben ist ein offenes Rohr, aus dem Regenwasser in der Schmutzbrache versickert. Wissen Sie, ich habe ja mit Immobilien zu tun: Wenn man bei uns das Regenwasser in den öffentlichen Grund ableitet, ist das illegal. Das muss alles in Rohre, das wird dann auch gemessen. und muss wegen der Sauberhaltung der Umwelt bezahlt werden. Hier nicht.
Hier hat jemand, vermutlich von Seiten des Staates, Steine abgelagert, um solche Brachflächen vermutlich zu beseitigen. Das muss eine Weile her sein, sie modern schon.
Die Raucher – mutmaßlich aus den hiesigen Büros, dabei ist übrigens eine Organisation für Wasserstoff- und Brennstoffzellen, das ist angeblich die Zukunft der Biomobilität – nutzen die Steinanhäufung sekundär als Aschenbecher.
Jemand war so schlau, seinen Fahrradständer anzuketten. Er hatte das Pech, dass es den Vandalen nicht um den Besitz, sondern um die Zerstörung ging.
Gegen solche Leue werden hier vermutlich auch solche Gitter verbaut. Die einen laufen frei herum, die anderen zäunen sich ein, und warten darauf, dass sie nicht betroffen sind.
Nach diesem St-Florians-Prinzip ist es üblich, ein Rad umzuwerfen, es kaputt zu treten und dann liegen zu lassen. Ich bin jetzt zwei Tage hier, es liegt immer noch genauso da wie vorletzte Nacht.
Andere rammen ihr grünes Leihrad, das durchaus über einen Ständer verfügt, lieber in steinerne Balustraden eines alten Gebäudes.
Und noch mal anderen ist es gelungen, goldene Luftballons in die Bäume steigen zu lassen, wo deren Restfetzen nun im Wind hängen. Die Baumfrevler, ich habe nachgeschaut, hat man übrigens nicht zur Ergötzung der Öffentlichkeit an die Bäume gekettet.
Machen Sie so etwas besser nicht am Tegernsee, wir reagieren da nicht so friedlich. Zerbrechliche Rotkäppchenflaschen vor dem Radständer sind auch so eine besondere Form der radlerfeindlichen Gedankenlosigkeit, die bei uns nicht hingenommen wird.
Unter der Brücke der S-Bahn gammelt immer noch das Relief eines Malers vor sich hin. 2004 war ich öfters in dieser Ecke, es gibt hier nicht viel Schönes, und ich dachte mir: Man könnte das vielleicht irgendwie schützen? Es gammelt weiter. Es ist halt da.
Unter der Hohen Kunst hat jemand eine Flasche der Rewe-Marke Seven Oaks geleert, und dazu noch etwas anderes mit Akohol. Wer an dieser Schmalstelle nicht auf der Strasse radeln will, fährt unweigerlich dort hinein.
Warum hier in der Unterführung dieses Stillleben aus Äpfeln und Mandarinen ist, ob es Bedürftigen helfen oder die Stadttaubenplage befördern soll – wer weiss. Es ist einfach so.
Es ist auch noch ein Rad hier, dessen Kette schon recht lange in ihren Kurven eingerostet sei dürfte, und ein eilig entsorgter Weihnachtsbaum der hiesigen, bürgerlichen Gesellschaft.
Ein Plakat verkündet mit einer strahlend weißen Bergesspitze, dass der inneralpine DJ Ötzi der Stadt seine Aufwartung machen wird, mit Party! Ohne! Ende! Dessen Liedgut gilt Berlinern nach vorherrschender. politisch korrekter Denkart als sexistisch, aber das stört hier ebenso wenig wie Graffiti mit Worten, die aus Gründen des Antirassismus aus dem Denken verbannt werden sollen. Hier ist es noch Rebellion, hier ist es Party, dann darf es sein.
Was das wohl sei mag? Clubkarte für ein Bordell? Roter Samt schimmert zwischen blankem Aluminium, jemand hat es wohl verloren, eine Besonderheit zwischen all dem anderen Müll in dieser – für Berlin an sich gar nicht schlechten – Strasse.
Während ich das schreibe, fährt ein Transporter mit ausländischem Kennzeichen auf den Hof. Drei Gestalten mit Kapuzenjacken springen heraus, gehen zum Container mit Wohnschrott und durchwühlen ihn fachkundig. Ein paar Stücke nehmen sie mit, ein paar Stücke lassen sie liegen. In den zwei Stunden zwischen Verlassen des Hotels mit Blick auf die Aufforderung, den Klimawandel zu bekämpfen, und eben jetzt, sind das vermutlich die einzigen, die wirklich ihren Teil zur Bewahrung der Schöpfung durch Recycling beitragen.
Schon bald werden die grosse Lampe und das kleine Kinderrad auf einem Flohmarkt der Region stehen, und Lena aus Heilbronn wird beides kaufen, die Lampe für sich und das Rad für ihre Tochter. Wenn die in der kostenlosen und keimreichen Kita ist, wird Lena bei Facebook schreiben, wie wichtig doch der Mentalitätswandel ist, und dass wir alle mehr für die Umwelt, die Reinheit der Luft, für das Klima, die Polkappen, die Eisbären und die nächste Generation tun müssen. Dann geht sie einkaufen, umkurvt geschickt die Obdachlose vor dem Lidl, und nimmt noch einen Coffee2Go mit. Für alle, die das Leben in Berlin genießen wollen. Und genau wissen, dass diese Stadt und ihre Menschen die Politik bestimmen sollten. Niemand versteht hier, was der Dobrindt mit seiner konservativen Revolution will, es läuft doch alles prächtig, wenn man erst einmal das Menschheitsproblem des Patriarchats beseitigt und das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt hat.
Diese komischen Bayern immer, was die nur haben?