Supermarktblog

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Nach jedem Lebensmittelskandal wollen die Verbraucher wissen: Was können wir noch essen? Dabei ist die Frage, wie wir einkaufen, mindestens genauso

Proteste gegen Tesco: Vom Lebensmittelhändler zum Feindbild

| 8 Lesermeinungen

Würden Sie Ihre Kinder auf eine Rewe-Schule schicken, sich abends auf dem Edeka-Platz mit Freunden treffen und dorthin mit dem bei Tengelmann versicherten Auto fahren? In Großbritannien ist das (fast) schon Wirklichkeit: Der Supermarktkonzern Tesco hat sein Geschäft in so viele Lebensbereiche hinein ausgeweitet, dass es den Briten langsam unheimlich wird.

Der Abend des 21. April 2011 war kein besonders schöner, jedenfalls nicht im Künstler- und Szeneviertel Stokes Croft der britischen Stadt Bristol, und das lag vor allem daran, dass sich zu später Stunde mitten auf der Straße 160 Polizisten in Kampfmontur und ungefähr 300 ziemlich aufgebrachte Demonstranten gegenüberstanden. Als es mit dem Gegenüberstehen vorbei war, brannten Barrikaden aus Mülltonnen, Steine flogen, Polizisten knüppelten, und am Ende kam ein Haufen Leute entweder ins Krankenhaus oder in eine Zelle.

Grund für den Straßenkampf war nicht die Sparpolitik der Regierung, auch nicht der Protest gegen eine Kriegsbeteiligung der Briten – sondern die Eröffnung einer neuen Supermarktfiliale des britischen Konzerns Tesco auf ebendieser Straße.

Der Laden wurde in dieser Nacht so schwer beschädigt, dass er zunächst wieder schließen musste (Video bei Youtube).

Bild zu: Proteste gegen Tesco: Vom Lebensmittelhändler zum Feindbild

Dabei verliefen die Proteste vorher – weitgehend – friedlich: Nach der Eröffnung versuchten Gegner, im Laden mit Spielgeld zu bezahlen (was ganz lustig ist), andere entschieden sich dafür, ihrem Unmut durch öffentliches Urinieren an die Fensterfront des Ladens Ausdruck zu verleihen (was ein bisschen dämlich ist). Zur Eskalation kam es erst, als die Polizei ein besetztes Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite räumte, weil der Verdacht bestand, dass dort eine Benzinbombe gebastelt wurde, die Tesco treffen sollte. (Ein ausführlicher Bericht dazu steht im „Independent“.)

Im Nachhinein stehen irgendwie alle dumm da: die Demonstranten, die behaupteten, die gewaltbereiten Spinner seien alle von außerhalb gekommen; und auch die Polizei, der vorgeworfen wird, durch ihre massive Präsenz überhaupt erst so viele Leute auf die Straße gelockt zu haben.

Nur einer ist ganz unschuldig aus der Nummer rausgekommen: Tesco. Das ist ein bisschen gruselig.

Schon vor der Eröffnung war der Widerstand gegen den neuen Supermarkt groß: Die Bewohner des Viertels organisierten eine Boykott-Initiative, weil sie fürchteten, der Konzern werde den unabhängigen Einzelhändlern endgültig das Geschäft vermiesen und sie zum Schließen zwingen. Tesco wiederum argumentierte mit dem exakten Gegenteil: Der Laden solle helfen, die Straße neu zu beleben. (BBC Radio 4 hat eine sehr hörenswerte Reportage dazu gemacht, in der beide Seiten zu Wort kommen.) Aber das war vermutlich nicht der einzige Grund für die heftigen Reaktionen, ebenso wenig wie es „nur“ um die Eröffnung des neuen Tesco (des 32. in Bristol) gegangen sein wird.

Die Proteste, in vielen Teilen Großbritanniens, richten sich gegen einen Konzern, der längst nicht mehr „nur“ Lebensmittel verkauft, sondern es in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten geschafft hat, dem größten Konkurrenten Sainsbury’s die Marktführerschaft abzunehmen und sein Geschäft derart auszuweiten, dass es in alle möglichen Lebensbereiche hineinreicht.

Die Frage, die sich die Protestler deshalb stellen, ist: Wie mächtig darf ein solches Unternehmen sein?

Im klassischen Lebensmittelgeschäft hat Tesco inzwischen einen Marktanteil von ca. 30 Prozent – mehr als der Zweit- und Drittplatzierte (Asda und Sainsbury’s) zusammen. Tesco verkauft Klamotten; Tesco ist Mobilfunkanbieter; Tesco produziert Fernsehgeräte; Tesco weiß alles über Kunden, die seine Clubcard beim Einkaufen einsetzen; noch dazu hat Tesco eine eigene Bank eröffnet, vergibt Kredite an und verkauft Versicherungen.

Das ist schon ziemlich viel. Aber es ist offensichtlich nicht genug, um weiteres Wachstum zu garantieren, das über die reine Expansion im umkämpften Lebensmittelmarkt nur noch schwer zu schaffen ist.

Inzwischen kauft der Konzern große Grundstücke auf, um sie – rund um einen großen Supermarkt – als Viertel neu aufzubauen: mit Schulen, öffentlichen Plätzen, ganzen Straßenzügen, bei denen Tesco mitbestimmen kann, welche Läden dort öffnen soll (und welche nicht). Im Osten Londons zum Beispiel hat Tesco ein Areal in der Nähe des Austragungsorts der Olympischen Spiele übernommen, auf dem 460 Wohnungen entstehen sollen, dazu ein Park, eine Bibliothek, eine Grundschule. Im Westen der Stadt soll ein Hochhaus gebaut werden („Tesco tower“), rundherum ein Marktplatz mit Cafés, der riesige Supermarkt steht schon. Die Bezirke Kensington und Chelsea haben das Vorhaben Jahre lang verzögert, indem sie die Bauentwürfe (diesen etwa) abgelehnt haben. Gebaut wurde bis Anfang Juli noch nicht.

Ehrlich gesagt ist es auch nicht der schönste Ausblick, den man dort als potenzieller Tesco-Mieter hätte – auf der einen Seite den Zubringer in die Stadt, auf dem sich regelmäßig der Verkehr staut, auf der anderen Seite – nun ja:

Bild zu: Proteste gegen Tesco: Vom Lebensmittelhändler zum Feindbild

Vielleicht ist das sowieso keine so gute Idee: ein Supermarktkonzern, der nicht nur unser Auto und unser Haustier versichert, der genau weiß, wann wir unser Konto überzogen haben und wann wir uns neue Möbel leisten könnten, dem wir zusätzlich die Miete für unsere Wohnung überweisen – und der, ganz selbstverständlich, auch noch die Stadtplanung übernimmt, die sich an dem rund um die Uhr geöffneten „Superstore“ orientiert, in dem wir einkaufen.

Exakt das sind die Gründe, warum Tesco zunehmend kritischer gesehen werden. (Und Projekte wie The People’s Supermarket entstehen.)

Die gute Nachricht ist: keiner der großen Supermarktketten in Deutschland ließen sich – derzeit – ähnliche Ambitionen nachsagen. Obwohl die Umsätze in die Milliarden gehen und viele ihr Geschäft bereits stark diversifiziert haben: Zu Rewe gehören zum Beispiel die Toom-Baumärkte, der Elektronikhändler Promarkt und das Touristikunternehmen ITS, Tengelmann betreibt einen Großteil der Obi-Märkte und besitzt den Klamotten-Discounter Kik.

Die schlechte Nachricht ist: Tesco hat gerade mal 15 Jahre dafür gebraucht, um vom Lebensmittelhändler zum Universalkonzern zu werden.

Vielleicht behalten Sie das einfach irgendwo im Hinterkopf, falls sich doch mal die Frage stellt, ob Sie Ihre Kinder auf eine Rewe-Schule schicken wollen oder sich abends auf dem Edeka-Platz mit Freunden treffen.

Ach ja, und: Der Tesco in Stokes Croft hat inzwischen ganz regulär geöffnet.

Fotos: Supermarktblog

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8 Lesermeinungen

  1. colorcraze sagt:

    Upps. Ich lese diesen Blog...
    Upps. Ich lese diesen Blog sonst nicht, aber dieser Artikel ist doch sehr interessant. Ich kenne solche Konzernsiedlungen von Industriebetrieben und Versicherungen, aber daß in GB ein Lebensmittelkonzern sich auf dieses Gelände begibt, ist mir auch neu. Deswegen danke für die Info.

  2. CaoKy60 sagt:

    Das mit der Kritik an der...
    Das mit der Kritik an der Polizeipraesenz erinnert so ein bischen an Berlin zum 1. Mai: kommen zu wenige Polizisten, nehmen das die Randalierer zum Anlass, ganz gross aufzudrehen. Was waere denn geschehen, es zeigte sich kaum ein Bobby vor dem Bristol Tesco, und dann wird der Laden tatsaechlich niedergebrannt und es sterben u.U. auch Menschen? Dann waere die Polizei laut kritisiert worden, dies nicht verhindert zu haben!! – Ueberhaupt sind Gewaltproteste gegen Supermaerkte doch sinnlos. Niemand wird gezwungen, bei Tesco einzukaufen – wie auch niemand gezwungen wird, dort ein Konto zu eroeffnen oder im Tesco Tower zu wohnen.

  3. CaoKy60 sagt:

    Hallo Herr Schader, haben Sie...
    Hallo Herr Schader, haben Sie schon bemerkt, dass die Kopfzeile Ihres Blogs gerade ein „Erstmal zu PENNY“ Werbebanner ziert?! 😉

  4. pschader sagt:

    @CaoKy60: Oh ja, und ich hab...
    @CaoKy60: Oh ja, und ich hab mich auch schon sehr gefreut.

  5. Klaus sagt:

    Vielleicht sollten noch mehr...
    Vielleicht sollten noch mehr Menschen gegen Tescos Fenster pinkeln, so lange, bis deren geldgeile Manager endlich merken, dass sie keiner will oder gar braucht, dann ist es auch nicht mehr „dämlich“. Sondern ein passender und gelungener Protest.

  6. CaoKy60 sagt:

    @Klaus: Weitaus effektiver als...
    @Klaus: Weitaus effektiver als Ihr oeffentliches Urinieren waere es aber, Leute wuerden nicht mehr bei Tesco einkaufen, weil sie mit der Philosophie dieser Kette nicht einverstanden sind. Bei Schlecker hat es z.B. gewirkt, und bei Media Markt scheint es auch so zu kommen! – Oder wollen Sie mit Ihrer vorgeschlagenen Aktion etwa andere Konsumenten dazu zwingen, nicht mehr bei Tesco einzukaufen? Das waere dann aber nicht so gut. – P.S. Ueberlegen Sie sich auch, wer wohl Ihr Urin von den Schaufensterscheiben abwischen muss – sicher nicht die Manager!

  7. fbossel sagt:

    Sehe das Problem nicht.
    Ein...

    Sehe das Problem nicht.
    Ein Anteil von 30% im Lebensmittelhandel, in den anderen Bereichen vermutlich noch weit darunter? Ein Universalkonzern? Na und?
    Bei über 50% in allen Bereichen sollte man sich Gedanken machen, bei über 70% vielleicht Sorgen, aber solange keine marktbeherrschende Stellung da ist & niemand gezwungen wird/ist, alles bei Tesco zu beschaffen, ist das nicht wirklich ein Problem.
    Ob eine Schule jetzt Rewe-Schule, Willy-Brandt-Schule oder Kath. Grundschule heißt, macht für mich auch keinen großen Unterschied, solange die unterrichteten Inhalte einigermaßen unabhängig (bzw. eventuelle Abhängigkeiten klar erkennbar) sind.
    & wie der Platz heißt, auf dem ich mich mit jemandem treffe, ist nun wirklich völlig belanglos.

  8. ThorHa sagt:

    Und wieder ein übersehener...
    Und wieder ein übersehener Anlass für mein Lieblingscredo: Selbst schuld! Die Bürger, nicht TESCO. Symptomatisch, dass die Gewalt gegen den Konzern geht, obwohl er, nähmen Gegner ihre Mitbürger ernst, gegen diese gehen müsste. Niemand muss bei TESCO einkaufen, sich versichern, seine SIM Karte beziehen. Und trotzdem tun es 30% (bei Lebensmitteln). Wem geben aufgeregte Konzerngegner die Schuld für das (aus ihrer Sicht) Versagen ihrer Mitmenschen? TESCO. Wer solche Bürger hat, braucht keine Feinde mehr …

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