Die Bornholmer Straße 71 im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ist eine – sagen wir: seltsame Wohnadresse. Weil die künftigen Mieter dort auf einem Fleckchen Erde ihre Wäsche waschen, Kaffee trinken und die Kinder zu Bett bringen werden, wo die DDR bis vor 22 Jahren eine ihrer Grenzabfertigungsanlagen aufgebaut hatte. (Nicht daneben, sondern direkt darauf.)
Als die Mauer fiel, war die dahinter liegende Bösebrücke der erste Übergang in den Westen, an dem die Passkontrollen eingestellt wurden. Es ist also nicht übertrieben zu behaupten, dass es sich um einen historischen Ort handelt. Nach der Wende lag das Grundstück lange brach. Auch heute kommen Touristen dort selten hin, trotz des potenziellen Fotomotivs: einem relativ gut erhaltenen Stück Mauer. Ende des vergangenen Jahres wurde auf dem schmalen Streifen im nördlichen Teil der früheren Grenzanlage der „Platz des 9. November 1989“ eröffnet. Als Gedenkstätte „repräsentativer wäre der Platz gegenüber gewesen“, schrieb das Blog@inBerlin damals. Und: „Meines Wissens gehört dieser Platz einem privaten Investor, mal schauen was passiert.“
Anfang Oktober, einen Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit, ist was passiert: Lidl hat eine neugebaute Filiale mit riesigem Parkplatz eröffnet.
Dort, wo früher die Barrikaden und Wachtürme standen, parken jetzt die Lidl-Kunden, wenn sie ihren Großeinkauf erledigen wollen. Manche brauchen dafür künftig nicht mal mehr ein Auto – sie müssen einfach die Treppe runterlaufen. Denn direkt auf den Markt (und daneben) baut Lidl derzeit ganz normale Wohnungen, die Anfang des nächsten Jahres bezugsfertig sein sollen.
„Es ist geplant, die Wohnungen im betreffenden Gebäude in der Bornholmer Straße am freien Markt zu vermieten. Die Vermarktung kann beginnen, sobald eine Besichtigung des Obergeschosses möglich ist, nach jetzigem Stand voraussichtlich Ende Oktober 2011“, sagt Lidl-Sprecher Stephan Krückel auf Anfrage. Es geht um acht Wohnungen „mit Terrassen und Atrien“, rundherum soll das Dach begrünt werden. Hoffentlich ist der Architekt nicht derselbe wie beim letzten wichtigen Lidl-Bauvorhaben.
Wer schon immer mal einem Discounter aufs Dach steigen wollte, und das auch noch völlig legal, sollte sich beeilen: Weil sonst nämlich nur noch die Wohnungen frei sind, die direkt über den riesigen Lüftungsanlagen des Markts liegen.
Dass Supermärkte als Wohnungsvermieter auftreten, ist in Deutschland relativ neu. Ganz so drastisch wie der Expansionsdrang des britischen Konzerns Tesco, der in Großbritannien ganze Stadtviertel aus dem Boden stampft, scheint der Lidl-Ausflug ins Immobiliengeschäft noch nicht zu sein. Aber der Platz in der Bornholmer Straße ist nicht der einzige, auf dem Lidl entsprechende Pläne verfolgt. In der nahegelegenen Prenzlauer Allee hat sich der Konzern ebenfalls ein Grundstück gesichert. Dort sollen außer einem 2000 Quadratmeter großen Markt eine „großflächige Tiefgarage sowie drei Wohngebäude mit insgesamt ca. 30 Wohnungen“ errichtet werden sollen. So berichtet es zumindest die örtliche Mieterberatung unter Bezug auf Lidl (pdf; siehe auch Prenzlauer Berg Nachrichten).
Konzernsprecher Krückel möchte dazu noch nichts sagen: „Was das Bauvorhaben in der Prenzlauer Allee angeht, bitten wir um Verständnis, dass wir hier noch keine Aussagen treffen können, da sich das Projekt noch in einer sehr frühen und damit noch nicht verbindlichen Entwicklungsphase befindet.“
Wie viele Wohnbau-Projekte Lidl außerhalb Berlins verfolgt, verrät der Sprecher ebenfalls nicht. In Tegernsee bei München existiert ein ähnliches Vorhaben, lässt sich in der Lokalzeitung nachlesen. Ob Lidl in den betroffenen Filialen künftig Oropax ins Sortiment aufnimmt, damit die Mieter die frühmorgendliche Warenanlieferung per LKW unterm Schlafzimmerfenster abmildern können, ist noch unklar. Dass das Unternehmen Wohnungen baue, gebe es aber „nur in Ausnahmefällen“, berichtet Krückel: „nämlich dort, wo in aller Regel die baurechtliche Situation am Standort eine mehrgeschossige Bebauung vorsieht bzw. sich die Lage für ergänzenden Wohnungsbau eignet“. Das heißt wohl soviel: Da war halt noch Platz.
Ganz so unrecht scheint Lidl das Betätigungsfeld jedenfalls nicht zu sein – sonst könnten die Wohnungen nach der Fertigstellung ja auch verkauft werden. (Und die vom Lebensmittelhandel unabhängige Expansion, zum Beispiel als Kreuzfahrtanbieter, läuft derzeit auf Hochtouren.)
Für die künftigen Anwohner der Hausnummer 71 in der Bornholmer Straße wird es in jedem Fall eine Leichtigkeit sein, ihren Gästen eine Wegbeschreibung zukommen zu lassen: Immer geradeaus bis zur Brücke, wo früher auf Mauerflüchtlinge geschossen wurde, dann rauf auf den Lidl-Parkplatz und am Treppenhaus direkt neben der Pfandrückgabe klingeln.
Fotos: Supermarktblog
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By the way. In Potsdam gibt es...
By the way. In Potsdam gibt es das gleiche Modell – Supermarkt inkl. Wohnungen – bei einem edeka-Markt.
Oh ja, wer ähnliche Projekte...
Oh ja, wer ähnliche Projekte kennt: bitte weiter in die Kommentare notieren! Die Unternehmen verraten sowas meistens ja nicht.
Gibt es noch mehr Lidl-Wohnungen in Deutschland?
Na toll, bestimmt sind die...
Na toll, bestimmt sind die Wohnungen nicht gerade billig.
Aber da freut sich der Bewohner die üblichen Bierpenner und Bettler vor seiner Tür zu sehen.
Hier geht es doch eigentlich...
Hier geht es doch eigentlich um zwei verschiedenen Dinge: (1) den Umgang mit historischen Staetten und (2) der Plan eines Discounters, ueber seinem Geschaeft Wohnungen zu bauen und potentiellen Mietern anzubieten. Zu (2) sei daher nur gesagt, dass ich Ihre implizierte Entruestung, Herr Schader, nicht teilen kann. Erstens war es in Staedten schon immer allgemein ueblich, ueber Laeden Wohnungen zu bauen. Das nuetzt urbane Flaechen sehr gut aus. Zweitens wird ja keinem Mieter so eine Lidl-Wohnung zwangsweise und alternativlos zugewiesen! Wer dort wohnen will, kann dies aus freien Stuecken tun. Was ist an diesem Angebot so moralisch verwerflich? Es gibt weitaus schlimmere Sachen, ueber oder neben denen man wohnen kann. Und wenn der Lidl-Parkplatz mal spaeter 24 Stunden am Tag ausgeleuchtet und ueberwacht wird, bestehen auch geringere Chancen, dass die Kfz’s der Lidl-Mieter in die berlinueblichen Flammen aufgehen :).
Wetten, daß nicht der...
Wetten, daß nicht der Lidl-Supermarkt als Wohnungsvermieter auftritt, sondern eine xyz-Immobilien-Betriebs-Verwaltungs-GmbH? Und wetten, daß der Lidl-Supermarkt selbst als Mieter im Objekt ist? Das sind keine unbedeutenden Feinheiten, wie frühere Karstadt-Aktionäre berichten können. Im Ernstfall Verluste und solidarische Insolvenzleistungen sozialisieren, und frühere Gewinne privat behalten.
In Garmisch-Partenkirchen,...
In Garmisch-Partenkirchen, direkt hinter dem Bahnhof gibt es diese Kombination:
Im EG eine Lidl-Filiale, darüber Wohnungen, in einem recht jungen Gebäude.
@CaoKy60
Zu 2) gehe ich ganz...
@CaoKy60
Zu 2) gehe ich ganz mit Ihnen konform.
Zu1) Meinetwegen könnten sämtliche historischen Stätten, die an diese gottverdammten Grenzübergänge und an diese gottverdammten Drangsalierungen durch die DDR-GrePo erinnern von der Hölle verschlungen werden.
Zumindest Aldi-Nord tritt ganz...
Zumindest Aldi-Nord tritt ganz offen auf der eigenen Homepage als Verkaufer und Vermieter von Wohnungen auf: https://www.aldi-nord.de/aldi_wir_vermieten_und_verkaufen_29.html
Aldi-Süd scheint sich auf die Vermietung oder Verkauf von Büros etc. zu beschränken: https://www.aldi-sued.de/de/html/company/immobilien.php
Gibt's in HH bei Netto (mit...
Gibt’s in HH bei Netto (mit Hund) auch. Da ist über einer neugebauten Filiale (in der es immer noch alles ausser Möhren gibt) ein Mietshaus mit geschätzten 10 Mietern entstanden.
Ist doch ganz praktisch, wenn man zum Einkaufen nur mal kurz die Treppe runter muss!
Dieses Modell hat...
Dieses Modell hat entscheidende Vorteile:
Es wird weniger Boden versiegelt als bei der Variante Supermarkt neben Wohnbebauung.
Für ältere Menschen, die nicht mehr gut laufen können, ist die Eigenversorgung gesichert.
Diese einfach hingeklotzten Einkaufshallen sind meist keine großen Würfe der Architektur.
Und das Dach des Supermarktes kann den Käufern nicht auf den Kopf fallen.
https://www.han-online.de/Harburg-Land/article58564/Schock-beim-Einkauf-Ploetzlich-kommt-das-Dach-herunter.html
Und dieses Modell ist ja wohl eines der ältesten Geschäftsmodelle, die wir kennen.