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Nach jedem Lebensmittelskandal wollen die Verbraucher wissen: Was können wir noch essen? Dabei ist die Frage, wie wir einkaufen, mindestens genauso

Wie ein Tiefkühlsupermarkt aus Versehen zum Eigenmarken-Pionier wurde

| 10 Lesermeinungen

Einst wurden Eisblöcke an Pariser Restaurantbetreiber ausgeliefert, um Lebensmittel haltbar zu machen. Heute ziehen die Kunden Lachsfilets in Blätterteigfischform aus den Truhen des französischen Tiefkühlsupermarkts Picard. Aber zwischendrin hat das Unternehmen mit seinen Eigenmarken vorgemacht, was gerade alle großen Supermarktketten adaptieren.

Wenn Erdbeeren denken könnten: Würden sie sich, wenn sie nach der Ernte ein paar Tage faul rumgelegen haben, einfrieren lassen, um in einer fernen Zukunft für immer existieren zu können?

In einem guten Zukunftsfilm (der erst noch gedreht werden muss) bestimmt.

Zusammen mit all dem anderen Tiefkühlobst und seinen Gemüsekumpels, den grünen Bohnen, den Karotten, dem leicht lädierten (weil bereits zu Röschen zerpflückten) Blumenkohl, ein paar hellsichtigen Hummern, die ihr alternatives Kochtopfschicksal geahnt haben, und den Törtchen, denen ihre Vorherbestimmung als Dessert widerstrebt, würden die Erdbeeren ein Kryoniklabor gründen, sich in flüssigem Stickstoff ertränken und darauf warten, dass sie eines fernen Tages aufgetaut werden. Und dieses Labor, es würde so aussehen:

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Wobei das natürlich der Stoff ist, aus dem Alpträume sind: dass auch nur im Entferntesten die Möglichkeit besteht, der zum Filet verarbeitete Lachs könne, mit Spinat ummantelt und in einer zu Fischform gekneteten Blätterteighülle verbacken, irgendwann wieder auferstehen und die Menschheit wegen ihrer Tiefkühlverbrechen heimsuchen.

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Sie merken schon: Als Kunde des französischen Tiefkühlsupermarkts Picard fängt man beim erstmaligen Betreten einer Filiale unweigerlich an zu halluzinieren. Das mag daran liegen, dass es selbst für langjährige Bofrost-Kunden gewöhnungsbedürftig ist, einen kompletten Einkauf ausschließlich aus der Tiefkühltruhe zu ziehen.

Oder daran, dass die komplett in weiß gehaltene Ladeneinrichtung zusammen mit den weißen Wänden, den weißen Decken und dem weißen Boden so aussieht, als würde hier demnächst „Anatomie 3“ gedreht.

Einen Preis für Gemütlichkeit oder Modernität gewinnt Picard mit seinen Filialen jedenfalls nicht. Aber immerhin hat das französische Unternehmen welche – im Gegensatz zu deutschen Tiefkühlhändlern, die ihre Kundschaft immer noch direkt anfahren und sich die Ladenmieten sparen. (Ausgeliefert wird bei Picard allerdings auch.)

Abgesehen von der Eignung als Kulisse für die Filmindustrie ist Picard mit seinem Konzept auch deshalb interessant, weil fast ausschließlich Tiefkühlprodukte unter dem eigenen Namen verkauft werden. Und zwar, ursprünglich einmal, nicht ganz freiwillig.

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Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich in zahlreichen Ländern die Erkenntnis durch, dass es eigentlich ganz praktisch wäre, wenn Lebensmittel nicht immer sofort verderben würden, bloß weil man sie ein paar Tage liegen lässt. (Eine Ausstellung im Mannheimer Technikmuseum zur Industrialisierung unseres Essens befasst sich derzeit unter anderem mit diesem Aspekt, der Kollege vom F.A.Z.-Feuilleton kann aber nur eine eingeschränkte Besuchsempfehlung aussprechen.) 

In Frankreich jedenfalls kam ein gewisser Raymond Picard auf die Idee, Eisblöcke an Pariser Restaurantbetreiber und Privathaushalte auszuliefern, um mit diesem ungeheuer fortschrittlichen Geschäftsmodell seinen Unterhalt zu bestreiten.

Das ging eine ganze Weile gut – bis sich im Laufe der Zeit Apparate durchsetzten, in denen sich Lebensmittel auch ohne Eisblöcke aufheben ließen. (Schauen Sie ruhig mal: Sie haben auch so ein Ding in der Küche stehen!)

Kurz und gut, die Eisblockproduzierende Industrie war erstmal am Ende als plötzlich in jedem Haushalt Kühlschränke und Gefriertruhen standen. Und Picard fasste einen erstaunlichen Entschluss: Er stellte sein Geschäftsmodell komplett auf den Kopf. Anstatt wie bisher Kühlung zu liefern, vertrieb Picard künftig einfach das Essen, das gekühlt (vor allem aber: eingefroren) werden musste. Ab Anfang der 60er wurde Fleisch, Fisch und Gemüse aus dem Katalog (hier: der aktuelle) geliefert. Nach dem Verkauf des Unternehmens in den 70ern öffneten die ersten Läden in Paris – und das Geschäft lief wieder.

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Zumindest bis die großen Supermärkte in Mode kamen.

Die hatten auch Tiefkühlprodukte im Angebot, oft sogar günstiger als Picard, vor allem aber landesweit in allen ihren Filialen und deswegen mit großem Einfluss auf die Hersteller, die lieber in großen Mengen die Supermarktketten belieferten.

Picard musste wieder reagieren und wurde vom Lieferanten zum Hersteller. Fortan wurde fast das komplette Sortiment selbst produziert und verpackt. Auf diese Weise ließ sich auch direkt auf die Qualität der Produkte Einfluss nehmen. Zum Discounter ist Picard aber nie geworden. Im Gegenteil: Der Einkauf ist immer noch etwas teurer als im klassischen Supermarkt.

Entscheidend ist aber, dass das Unternehmen damals schon sozusagen unter Zwang etabliert hat, woran sich viele große Supermarktketten heute ebenfalls versuchen: Eigenmarken durchzusetzen, die sich – anders als bei Aldi – nicht unbedingt über einen niedrigen Preis definieren und in der Konkurrenz mit Produkten klassischer Markenhersteller bestehen können. Natürlich denkt bei Rewe, Edeka und Real keiner daran, das Sortiment komplett auf Eigenmarken umzukrempeln. Aber seit einiger Zeit werden die Regale reihenweise mit Produkten vollgestellt, die unter eigenem Namen vertrieben werden.

Der Rest der Picard’schen Unternehmensgeschichte kann übrigens getrost untern Tisch gefallen lassen werden: Seit Jahren wird die Tiefkühlkette von einer Kapitalgesellschaft zur nächsten geschubst, weil jede ein Vielfaches ihrer Investitionen nach ein paar Jahren zurückhaben möchte (anstatt zum Beispiel mal in ein modernes Ladendesign zu investieren). 

Aber das ist ja den tiefgefrorenen Erdbeeren egal. 

Zumindest bis sie eines Tages aufgetaut werden, sich danach ganz matschig fühlen und realisieren, dass die ganze Obstkryonik völlig umsonst war, weil sie dann ja doch im Quark landen.

Fotos: Supermarktblog

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10 Lesermeinungen

  1. Rozi sagt:

    Sowas gab oder gibt es...
    Sowas gab oder gibt es hierzulande auch. In meinem münsterländischen Geburtsort gab’s bis zum letzten Jahr eine Filiale der Tiefkühlkette „Polaris“. Wenn ich mich recht erinnere war das ein Franchise. Offen war der Laden mehrere Jahre und die Produktpalette bestand auch nicht aus den überall sonst anzutreffenden Tiefkühlwaren. Es gab auch regelmäßig Sonderangebote und Zeitungsanzeigen.
    Die Zentrale war wohl in Nordhorn und Läden scheint es auch hundert Kilometer weiter im Ruhrgebiet gegeben zu haben – Essen, Kamen und so weiter. Von einer nicht mehr zugreifbaren Internetpräsenz stammt dies: „Tiefkühlkost und Eis: frisch, bequem und lecker / qualitativ hochwertig / sehr preisgünstig.
    Die Erfolsgeschichte: Polaris expaniert wie kein anderer Tiefkühldiscounter.
    Wir wollen, dass Sie an unserem Erfolgskonzept teilhaben und suchen deshalb ständig engagierte und motivierte Vertriebspartner sowie attraktive Ladenlokale.“
    Franchise-Geber war wohl die Polaris Vertriebs-GmbH in Nordhorn. Unter gleicher Telefonnummer ist da auch Peters Nahrungsmittel/Tiefkühlkost zu finden und offenbar gibt’s auch Peters Tiefkühlshops in der Umgegend, zum Beispiel in Nordhorn, Schüttorf oder Gronau/Westf.
    Einige hundert Läden wie Picard in Frankreich wird’s wohl nicht (ge)geben(haben), aber wieviele es waren lässt sich im Nachhinein nicht so einfach feststellen.

  2. ch_m sagt:

    In Großbritannien gibt es mit...
    In Großbritannien gibt es mit Iceland eine ähnliche Kette, die nur ‚frozen food‘ verkauft. Sie enstand allerdings erst in den 1970ern und vertrieb vom Anfang ihrer eigentlichen Expansion an Eigenmarken (und bis in die jüngere Zeit auch Gefrierschränke und -truhen). Um die Jahrtausendwende versuchte Iceland sich mit einem Bekenntnis zu nicht-genmanipulierter und ‚organic‘ Ware zu positionieren. Die Strategie gelang wohl so nicht, und heute fährt man eher die Billigschiene.
    https://images.newsvend.info/130327-173944-large.jpg

  3. Hallo Peer,
    es freut es mich,...

    Hallo Peer,
    es freut es mich, dass Picard mit seinen Eigenmarken relativ erfolgreich ist, denn sonst wäre das traditionsreiche Unternehmen schon längst vom Markt verschwunden [gewagte Annahme des Autors].
    Die deutschen Supermärkte halten sich mit ihren Eigenmarken noch etwas zurück … bei den Drogeriemärkten wie z.B. DM beobachte ich eher das Gegenteil.
    Habe mir vor zwei Wochen erlaubt, bei DM für jedes „Markenprodukt“ ein „Eigenmarkenprodukt“ herauszusuchen … Das Ergebnis nach 15 Minuten Suche [keine wissenschaftliche korrekte Erhebung]? … Es gibt fast kein Markenprodukt, für welches DM nicht ein Eigenmarkenrodukt eingeführt hat … Zahnseide, Gesichtsremes, Vitaminpräparate, Sonnencremes, usw. … die Positionierung der Eigenmarken erfolgte nicht selten auf Augenhöhe mit den etablierten Marken.
    Das Eigenmarken-Modell scheint … zumindest bei DM … sehr gut zu funktionieren. Ich glaube jedoch nicht, dass DM eines Tages auf die Idee kommt, nur Eigenmarken zu führen … aber ihr Anteil ist schon heute beachtlich hoch.
    Möglicher Best-Practice-Case für deutsche Supermärkte?

  4. Thomas sagt:

    Ein weiteres...
    Ein weiteres Best-Practice-Beispiel für Deutschland wäre die Supermarktkette Feneberg, welche seine Eigenmarke nicht nur preislich auf/über dem Niveau von Markenprodukten positioniert, sondern sie auch gezielt dazu nutzt, sich von der Konkurrenz zu differenzieren und die eigene Unternehmensmarke zu definieren.

  5. Raoul sagt:

    Mir würde ein Picard hier in...
    Mir würde ein Picard hier in Lübeck gut gefallen. Wir sind Kunde bei Bofrost, aber es kommt immer wieder vor, dass unser Tiefkühler voll ist, wenn der freundliche Bofrost-Fahrer bei uns klingelt. Trotz der Angabe von Wunschterminen bei Bofrost wäre ein Ladengeschäft für uns eine gute Idee. Ich zahle für entsprechende Qualität dann auch einen Aufschlag. Eigenmarken sind für uns dabei überhaupt kein Problem – ok, die Qualität sollte stimmen. So wird im Drogeriediscounter auch häufiger zur preisgünstigen Eigenmarke gegriffen.

  6. Mia sagt:

    Warten wir noch ein paar Jahre...
    Warten wir noch ein paar Jahre dann bieten Picard und die dt Kollegen nicht nur den Erdbeeren die Kryonische „Verjüngung“ an, als konsequente Weiterentwicklung des Konzepts Geld mit auf Eis legen zu verdienen

  7. Christian sagt:

    Ich frier daheim auch immer...
    Ich frier daheim auch immer alles ein. Ist doch immer noch besser als alles wegzuschmeisen, wie es die meisten Deutschen angeblich praktizieren.
    Allerdings kann man das auch übertreiben, angeblich ist letztes Jahr Fleisch aus den 70ern auf den russischen Markt gekommen – Na dann guten Appetit.

  8. Ciara sagt:

    Ein super Artikel!
    Ich stelle...

    Ein super Artikel!
    Ich stelle mir grad lebhaft vor, wie der in Fischform gequetschte Lachs in Blätterteig zum Leben erwacht und sich bei der Tiefkühlindustrie rächt ;D Klasse!
    Ich selbst bin auch ein Fan von Tiefkühlprodukte oder dem Einfrieren von frischen Sachen. Man spart sich damit den täglichen Gang zum Supermarkt und rettet Lebensmittel vor dem Verderben! Ich hab einfach schon ein ungutes Gefühl, wenn auch Hackfleischpackungen steht: bis xx haltbar bei 2Grad. 2 Grad hat mein Kühlschrank nunmal nicht – und wenn man es aufheben möchte, dann bleibt eben nur das Einfrieren!
    Wobei ich einen reinen Tiefkühl-Supermarkt sehr komisch finden würde, v.a. wenn alles noch so weiß ist 🙂
    LG, Ciara

  9. Petra sagt:

    @Ciara
    Von allen Todsünden,...

    @Ciara
    Von allen Todsünden, die wir mit dem Essen begehen könne, ist verpacktes Hackfleisch eine der schlimmsten.
    Bei den tiefgefrorenen Produkten gibt es doch in allen Discountern und Supermärkten ausreichend tiefgefrorene Produkte; unser EDEKA kommt da bestimmt auch schon auf fast 20 Meter an gut bestückten Truhen.

  10. Lennart sagt:

    Zumindest typographisch und...
    Zumindest typographisch und von der Verpackungsgestaltung her gefällt mir der Laden ganz gut. Besser als alles in Deutschland.

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