Noch immer sind die Londoner U-Bahnstationen voller Plakate von „Black Swan”, der Strom des Großstadtpublikums in die Kinosäle des Ballett-Thrillers scheint nicht abreißen zu wollen. Tony Hall, geschäftsführender Direktor von Londons Opernhaus „Covent Garden”, freut sich darüber, das Ballett derart ins Schweinwerferlicht gerückt zu sehen. Unzweifelhaft sei, so schreibt er im Programmheft zum neuesten Abend des Royal Ballet, dass „Black Swan” das Interesse der Öffentlichkeit an dieser Kunstform gesteigert und seinem Haus eine überraschende Anzahl „neuer, enthusiastischer Fans” beschert habe, die gekommen seien, um zum ersten Mal ein Ballett auf der Bühne zu erleben.
Na bitte. Ganz sicher werden sie feststellen, dass es ein noch viel größeres Vergnügen ist, einer wirklichen Tänzerin zuzusehen, als einem Abziehbild auf Celluloid. Welche Auswirkungen diese Besuche aber genau auf sie haben werden, darüber können wir nur spekulieren. Von ganz konkreten, die Lebensqualität erheblich steigernden Resultaten des Tanzes berichtet an diesem Wochenende Susie Boyt, Journalistin der „Financial Times”, in ihrer Kolumne „Geography and Grand Jetés”. Käme es zum Äußersten an räumlicher Orientierung in der Wirklichkeit, dem Kartenlesen, sei sie ein totaler „Moron”, gesteht Boyt, also eine Vollidiotin. Sie glaube nicht, dass sie viele Geschlechterstereotypen erfülle, aber in diesem einen Punkt bekenne sie sich voll schuldig. Sie sei sicher, ein Scan ihres Gehirns würde ergeben, dass an der Stelle, an der erwartbarerweise der Navigationssinn zu lokalisieren sei, bei ihr eine riesige Lücke gähne (nur wo exakt in ihrem Gehirn sich diese Leerstelle befinde, dürfe man sie natürlich nicht fragen, scherzt Boyt). Einige der tragischen Folgen dieser Inkompetenz hat sie gelernt, geschickt abzumildern, schreibt die Autorin. So habe sie sich angewöhnt, wenn sie in Hotels ihr Zimmer nicht wiederfände, einfach so zu tun, als funktioniere ihre Zimmerkarte nicht. Dann begleite sie jemand vom Personal zu ihrem Logis zurück, ohne dass sie den wahren Grund offenlegen und sich genieren müsse. Glücklicherweise arbeite sie von zuhause aus. Und an dieser Stelle der Kolumne erinnert uns Boyt an das „Financial” im Titel ihrer Zeitung. Sie wisse, seit sie ihre Dysfunktionalität gegoogelt habe, dass etwa so viele Menschen an ihr litten, wie die kanadische Bevölkerung heute zählt, also 28,8 Millionen. Von Insider-Geschäften rate sie natürlich strikt ab, aber sie ermutige die „Plutokraten” im Land ausdrücklich, in Ballettschläppchen zu investieren. Denn nach nur sechs Monaten Ballett-Training habe sie an sich beobachtet, wie sich ihr Orientierungssinn dramatisch verbessert habe. Die Zeile aus dem Musical „Chicago” – When you’re in trouble, go into your dance”, sei wahr.
So wahr.
Das war der jüngste, aber übrigens nicht der erste heroische Selbstversuch eines ansonsten mit seriösen Themen befaßten Journalisten mit Ballett. Vor einigen Jahren dokumentierte ein Video auf der Website der „New York Times”, wie sich ein Chefredakteur durch ein Training des „New York City Ballet” kämpfte und versuchte, einen einzigen Arbeitstag eines Tänzers durchzustehen. Der Respekt war groß – auf beiden Seiten.
Wer einmal mit dieser faszinierenden Welt in Berührtung gekommen ist, möchte genauer verstehen, was in den Ballettsälen und auf den Bühnen geschieht. Wenn man sich fragt, was einen da so fesselt, dann ist man an dem Punkt angelangt, an dem der Ballettkritiker sich nach jeder Vorstellung befindet. Was war das? Wie beschreibe ich das, und wie erkläre ich das?
Die Hirnforschung hat erste Ergebnisse dazu vorgelegt, wie sehr Bewegung das Gehirn stimuliert. Die kinästhetischen Prozesse beim Zusehen resultieren – vereinfacht gesagt – in einem Zuschauervergnügen, das sich steigert, je mehr Tanz man sieht. Denn – hier kommt die Theorie der Spiegelneuronen ins Spiel – offenbar werden im Gehirn dieselben Areale mitvollziehend, berechnend, aktiv, ob wir zuschauen oder selbst tanzen. (Dazu in einem anderen Moment mehr) Für den Augenblick genügt es zu erklären, woher die spontane Begeisterung entspringt, wenn man – vielleicht zum ersten Mal – Tanz sieht, und warum diese wächst, je öfter man zuschaut.
Vor genau hundert Jahren setzte der Ballettkritiker Akim Volynsky seine Feder auf das Papier, um diesem Phänomen anläßlich einer „Schwanensee”-Vorstellung mit der damals unendlich bewunderten Mathilde Kschessinska auf den Grund zu gehen. Volynsky betont, wie die technischen Schwierigkeiten, die die Virtuosin allesamt souverän präsentiert, nicht bloße Kunststückchen darstellen, sondern an jeder Stelle im Ballett ihre dramaturgische Funktion erfüllen und etwas über „Odette” / „Odile”, den weißen und den schwarzen Schwan, aussagen. Mindestens so phantastisch findet Volynsky, dessen Ton ruhig und analytisch ist, wie ihre Pantomime, fern jeglicher Affektiertheit, fern jeder Theaterkonvention natürlich wirkt. Kschessinskas ausdrucksstarkes Gesicht spiegele ihre Gefühle etwa so, als würde sie dabei in Worten erklären, was in ihr vorgeht.
So wie Volynsky an einem Tänzer schätzt, dass die Art und Weise, in der eine Bewegungsphrase ausgeführt wird, etwas Allgemeineres ausdrückt über den Tanz, etwas, das über diese besondere Stelle in dem speziellen Ballett hinausgeht, so fasst auch er in seinen Reflektionen immer wieder brillant zusammen, was das Wesen des Tanzes ausmacht. „Tanz ist in sich und aus sich heraus schön, aber wenn solche starken Begabungen wie Anna Pavlova und Mathilde Kschessinska, oder solche vollkommenen klassischen Ballerinen wie Vera Trefilova auf die Bühne wirbeln, oder wenn Olga Preobajenska mit ihrem enormen Sinn für Rhythmus sich der stillen Musik der Bewegung überläßt, dann ersteht das Phänomen des Tanzes in all seiner Erhabenheit vor uns. Leidenschaften werden ohne jeden Lärm erfahrbar gemacht mittels der Mechanik der Formen, die einander auf der Bühne ablösen wie durch Zauber. Das Erzittern des Flugs im Sprung, das Wirbelwindartige zwei- und dreifacher Drehungen, der grenzenlose Enthusiasmus des technisch nahezu unergründlichen Fouettés – eine ganze neue Welt entfaltet sich vor unseren Augen, großartig, delikat, und im Glanz einer Art höherer Mathematik der Korrektheit und des Charmes.”
In diesem Sinne herzlich willkommen in den Tanzvorstellungen dieser und vergangener Welten, liebe Kinozuschauer von „Black Swan”.
Akim Volynsky: „Ballet’s Magic Kingdon. Selected Writings on Dance in Russia, 1911 – 1925. Translated, Edited, and with an Introduction and Notes by Stanley J. Rabinowitz”. Yale University Press, New Haven and London, 2008