Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Aus Paris, auf DVD: Das Ballett "La Petite Danseuse de Degas"

War die vierzehnjährige Tänzerin Marie van Goethem, die Edgar Degas Modell stand für die skandalumwobene Skulptur "La petite danseuse de quatorze ans" eine "Blume der frühen Verderbnis", wie Zeitzeugen 1881 argwöhnten? Zum Verhältnis von Kunst, Ballett und Wirklichkeit.

 

In dem mit „Bühne Bordell Boudoir” etwas schlagwortartig übertitelten, im übrigen ganz ausgezeichneten Aufsatz von Patrick Bade über den Maler und Bildhauer Edgar Degas (in „Degas. Intimität und Pose. Katalog der Ausstellung der Kunsthalle Hamburg, 2009, Hirmer Verlag München”, zuerst erschienen 2000 unter der einleuchtenderen Überschrift „Edgar Degas” in New York bei Parkstone Press) verstrickt sich der sonst so versierte Autor an einer Stelle in die seltsamsten Widersprüche. Er berichtet, der Schriftsteller Edmond de Goncourt habe 1874 nach einem Besuch im Atelier von Degas in seinem Tagebuch festgehalten, der Künstler sei imstande, „unterschiedliche Ballettpositionen vorzuführen” (Zitat Bade).

Bade phantasiert, der „Anblick des konservativen und nicht mehr jugendlichen Degas bei der Vorführung von Pirouetten muß eigenartig gewesen sein.” Degas habe nur selten tatsächliche Vorstellungen gemalt, sondern sei stärker an der Atmosphäre hinter der Bühne interessiert gewesen. Nein und ja und nein. Ballettpositionen vorzuführen bedeutete in Degas’ Fall sicher nicht in erster Linie, den Goncourt-Bruder mit Pirouetten beeindrucken zu wollen. Eine Pirouette ist keine Position, sondern eine Bewegung, genauer, eine Drehung – und als solche nicht interessant für einen Maler insofern, als er sie malerisch nicht wiedergeben kann. Degas – dessen Vorführung von Pas oder Positions (erste Position, zweite, dritte, so wird im Ballett durchgezählt bis zur sechsten Position, je nachdem wie die Füsse gestellt sind) – mit seiner politischen Grundeinstellung zunächst einmal in keinem mir erkennbaren Zusammenhang steht – Degas muß auch als nicht mehr jugendlicher Mann so überhaupt nicht seltsam ausgesehen haben bei dem Versuch, die hundertachtzig Grad seitlich nach außen zeigenden Füsse so eng voreinanderzustellen, dass sich die schwerste, die fünfte Position ergibt. Die Aufführung wiederum hat ihn mutmaßlich schon darum nicht interessiert, weil das Ballett der Pariser Oper sich nicht erst seit den späten 1870er Jahren in einem absoluten künstlerischen Tief befand.

Es muß trotzdem nicht sein, dass Degas sich nur für die soziologischen Aspekte der Aufführung interessierte – etwa nur die illegitimen Beobachtungsinteressen der vieux abonnés registrieren wollte. Nein, Degas – und darum auch die Vorführung von Pas gegenüber dem Schriftstellerfreund – interessierte sich für die plastischen Aspekte des Tanzens. Er hatte begriffen, dass die Haltungen „epaulement” oder „effacé” ihren Grund darin hatten, dem Betrachter im Publikum einen möglichst dreidimensionalen, von Energie durchströmten Anblick des bewegten Körpers zu gewähren. Der Künstler Degas zeigte sich von den Ballerinen auf die gleiche Weise fasziniert wie von den Rennpferden – es ging ihm stets um Körper in Bewegung. Zudem ist das Leben hinter der Bühne während einer Vorstellung extrem aufregend. Tänzer wärmen sich auf, konzentrieren sich, Tänzer ringen nach Luft, wenn sie zurückkehren aus dem Scheinwerferlicht. Tänzerinnen flüstern einander etwas zu, essen etwas, trinken, stecken ihre Haarnadeln fest, schlingen ein Tuch um den schweißnassen Oberkörper. Sie atmen schwer, beugen sich vor, ihnen ist schlecht vor Aufregung, oder sie sind total fiebrig, rauszukommen auf die Bühne. Degas begriff dort und im Ballettsaal., wo er so oft saß, dass Tanz harte Arbeit mit dem Körper ist, niederdrückend hart manchmal, fast so schlimm oder nicht schlimm wie andere Professionen, die ihn als Künstler fesselten: Wäscherei, Prostitution.

Und vermutlich hat ihn auch dieser auffällige Gegensatz nicht losgelassen zwischen der Erhabenheit des klassischen Tanzes mit seinem Elevée, dem poetischen Erhobensein auf die Spitze, dem Schweben, der Balance, der anstrengungslosen Grazie, und der Rückseite des Bildes – kichernden, albernen, mit Alltagssorgen und Koketterien beschäftigten ganz normalen jungen Frauen, vielleicht etwas vulgär, sicherlich vollkommen erschöpft, manche nur darum besorgt, einen der lüsternen reichen Gönner für sich einzunehmen.

So nüchtern oder realistisch nahmen die Zeitgenossen von Degas die 1881 auf der „Cinquième Exposition Impressioniste” in einer Glasvitrine präsentierte Plastik „Petite danseuse de quatorze ans” nicht wahr. Es gab einen Aufschrei, das Gesicht des Mädchens sei häßlich, „eine Blume der frühreifen Verderbnis” habe man vor sich, schimpfte das Publikum. Degas schockierte es mit dem realistischen Material – einem Haarband, einem Tutu, Wachs.

Bild zu: Aus Paris, auf DVD: Das Ballett "La Petite Danseuse de Degas"

Foto: Julien Benhamou / Opéra national de Paris

 

Auf Schock waren der Choreograph Patrice Bart und sein Team an der Pariser Oper 2003 sicher nicht aus, als sie das Ballett „La petite danseuse de Degas” zur Uraufführung brachten. Jetzt hat die Opéra national de Paris bei Arthaus Musik eine 2010 aufgezeichnete Version des Balletts auf DVD herausgegeben. Die Idee von Patrice Bart und Martine Kahan, das Leben von Degas` Modell Marie van Goethem in jenen Jahren, da sie für ihn arbeitete und er ihren Arbeitsalltag am Theater studierte, zu schildern, ist brillant. Die Tänzer sind vorzüglich in ihren Rollen – Clairemarie Osta als petite danseuse ebenso wie Dorothée Gilbert, Mathieu Ganio, José Martinez oder Benjamin Pech. Das Bühnenbild empfindet jene Räume verblüffend authentisch nach, die im Palais Garnier nicht weit von der Bühne tatsächlich existieren, die Kostüme mit ihrer teils leuchtenden Farbigkeit versuchen, Degas’ Gemälde wie eine ins Leben getretene Illusion getreu zu inszenieren, wunderschön. Die Auftragskomposition von Denis Levaillant hingegen ist schrecklichster Eklektizismus, eine billige Konserve aus allen dreimal aufgekochten Spezialitäten der Moderne.

Also: Ton abstellen und dem Tanz und den Bildern der Geschichte folgen. Und danach in die Lektüre einsteigen. Denn natürlich ist das, was die elegante, geschmackvolle, stilsichere Pariser Oper da präsentiert, etwas zu schön, zu subtil, zu poetisch, um wahr zu sein. Seltsam wiederum: Liest man bei den Kunsthistorikern nach, verstehen diese nicht Degas’ Liebe zum Tanz, schaut man sich das Ballett an, glaubt man, Bart und die Tänzer hätten Degas und seine Zeit nicht ganz begriffen.