Es war überall so, es ist leider an vielen Theatern immer noch so, dass der Tanz keine unabhängige Sparte mit eigenem Etat ist. Manche Intendanten weigern sich, ihren Ballettdirektoren feste Budgets auch nur mitzuteilen, geschweige denn zur Eigenverwaltung zu überlassen. Das ist demütigend. Mit der Tatsache, dass wenige Theaterleiter wirklich verstehen, wie lange es dauert, ein zeitgenössisches Tanzensemble aufzubauen, wie voraussetzungsreich es ist, Choreographien zur Uraufführung zu bringen, die länger als einige Spielzeiten künstlerische Gültigkeit besitzen, damit könnte man sich noch abfinden. Nicht aber mit dem mancherorts über Jahrhunderte ausgeprägten habituellen Hochmut gegenüber einer nonverbalen, aber darum nicht illiteraten oder unmündigen Kunst. In den sechziger Jahren mußten Tänzer und Choreographen argumentieren, dass der Tanz nicht zwangsverpflichtet werden sollte zu Balletteinlagen in Opern. Dafür müssen jetzt Extra-Tänzer und Extra-Choreographen engagiert werden. Das muß man verstehen. Wenn ein Choreograph mit seinem Ensemble ein neues Stück erarbeiten möchte, ist es nicht sehr praktisch, dabei von einem Opernregisseur und dessen Probendisposition unterbrochen zu werden. Ohnehin richten sich die Tanzcompagnien an den Theatern häufig genug nach den Planungen des Musiktheaters, denn diese sind aufwendiger. Während das Ballett überwiegend mit fest angestellten Tänzern arbeitet, singen in der Oper häufiger Gäste. Das Künstlerische Betriebsbüro muß dann mit deren anderweitigen Verpflichtungen jonglieren, um Proben- und Vorstellungstermine koordinieren zu können. Chor und Orchester mit ihren streng geregelten Diensten erschweren das Planen zusätzlich. Das führt an Dreispartenhäusern meistens dazu, dass Tanzvorstellungen nicht danach angesetzt werden, wie es für das Ensemble sinnvoll wäre, sondern danach, wo Lücken sind und Chor, Orchester oder Gäste nicht spielen können. Der Tanz versucht sich damit einzurichten, auch wenn das manchmal bedeutet, Stück A am Anfang eines Monats und an dessen Ende zu spielen, dazwischen aber Stück B, sodass Ende des Monats für Stück A wieder ganz neu geprobt werden muß – Zeitverschwendung eigentlich.
Wo der Tanz weitgehende oder vollständige Unabhängigkeit erlangt hat, können ungestört Produktionen entstehen. Allerdings zeigen sich verschiedentlich die negativen Auswirkungen dieser Trennung der Sparten Tanz und Musik. Wieviel Tänzer trainieren, wie sie proben, was die besonderen Bedingungen ihrer Arbeit sind, wissen die anderen im Haus oft gar nicht so genau, wenn es keine gemeinsame Arbeit an Produktionen gibt. Daraus entsteht auch die vielleicht schlimmste Folge für den Tanz. Bei Sparmaßnahmen erscheint es manchen Theaterdirektoren das einfachste, eine Sparte, den Tanz nämlich, komplett wegzusparen, anstatt die Etatkürzungen anteilig umzulegen. Woher soll die Solidarität im Haus kommen, wenn die anderen Sparten gar nicht das Gefühl haben, etwas – jemanden – zu verlieren, das / der mit ihnen zu tun hat?
Hat also die Separierung des Tanzes nicht zu mehr Respekt geführt? Absurderweise sieht das so aus. Doch nicht nur auf der organisatorischen Ebene hat die Spartentrennung Folgen. In der Inszenierung von Barockopern beobachtet man häufiger, dass Divertissements musikalisch gestrichen werden, aus Mangel an choreographischen Konzepten, an Verständnis für die Bedeutung des tänzerischen Elements in dieser Epoche des Musiktheaters. Ästhetisch stellt das eine Verarmung in der Aufführungspraxis der Barockoper dar. Natürlich steht dieses umstandslose Streichen im Zusammenhang mit der Idee, diese Divertissements seien dramaturgisch überflüssige Einlagen, von denen für den Verlauf des musikalischen Geschehens nichts abhängt. Irrtum, sagen die Musikwissenschaftlerin Anja-Rosa Thöming und ihr Kollege Andreas Waczkat. In ihrem lesenswerten Aufsatz „Anmutig, würdevoll, entspannt und natürlich. Charpentiers „Médée” und das Menuett als Ausdruck der Affektbeschwichtigung” ( in „Concerto” Nr. 235, Ausgabe Dez 2010 / Jan 2011, Seite 25 – 29) schildern sie anhand zweier Tänze in der tragédie en musique ‘Médée’ von Marc-Antoine Charpentier und Thomas Corneille, inwiefern diese im ersten Fall mit der „Kontrolle höfischer Contenance” in Verbindung stehen und im zweiten Beispiel sogar „mit der Beschwichtigung tiefster, innerer Verstörung”. In der sechsten Szene des vierten Akts übt Médée ihre zauberischen Kräfte aus, „indem sie mit einem menuettartigen Air Geister herbeiruft, die als liebliche Wesen die Wachen betören”, schreiben Thöming und Waczkat und fahren fort: „Mit Auftritt der tanzenden und singenden Geister könnte man versucht sein, die Szene als Divertissement zu registrieren und beiseite zu legen, doch wäre es mit Blick auf die musikalische Qualität und Vielfältigkeit sowie eine höchst sinnvolle dramaturgische Einbettung angemessen, sie als einen Höhepunkt im Stück anzusehen, vergleichbar der berühmten passecaille aus Lullys Armide.” Inmitten von „Chaos, Verrat und Tod” wirke die liebliche Verzauberungsszene logisch, so die Autoren, als Versuch Médées, ihren Gegenspieler Créon zu entwaffnen, indem sie ihn in einen paradiesischen, allen irdischen Sorgen enthobenen Traumzustand versetze.
Es hat Charpentiers Médée nichts genützt, das wissen wir. Daran zu erinnern, könnte dem Theater nützen.