Man fragt sich, wozu in aller Tanzwelt Kritikerumfragen gut sein sollen und wem es hilft, bester Tänzer des Jahres gewesen zu sein oder ob William Forsythe sich wirklich noch freut, wenn ihn ein Drittel der Experten zum weltbesten Choreographen erklärt. Werben die Theater etwa damit („Das neueste Werk des weltbesten Choreographen der Saison”)? Kriegen die Ausgezeichneten mehr Geld? So wie Oscar-prämierte Schauspieler höhere Gagen bekommen? Nicht, dass ich wüßte.
Da mit Tanz vergleichsweise wenig Geld zu verdienen ist, spielen Auszeichnungen eine geringere Rolle. Am Ende ist einem Tänzer das Lob eines Ballettmeisters, den er respektiert, der Ballerina die Begeisterung des Choreographen, mit dem sie eine Rolle geschaffen hat, unvergleichlich wichtiger.
Außerdem: Je länger solche Etikettierungen zurückliegen, desto mehr wirken sie auch wie die Restaurantführer-Aufkleber an Lokaltüren, die vom Lob überholter Auflagen zeugen. Das führende Fachmagazin, Emma Manning’s englische „Dance Europe”, hat den „Critic’s Survey” gerade abgeschafft und wird stattdessen über die einhundert besten Tänzer der Welt abstimmen lassen. Daraus können sich die Leser dann die ideale virtuelle Compagnie des Universums zusammenstellen.
Zurückzublicken auf die vergangene Saison und sich an einige der schönsten, bedeutendsten Abende und Ereignisse des Tanzjahres zu erinnern, ist trotzdem ein unersetzliches Ritual, hier zum ersten Mal also ohne Vorgaben, Ranglisten und Kategorien und von der einzigen One-Woman-Only-Jury. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Unangreifbarkeit, aber absolut ehrlich. Enjoy.
Zunächst zwei Dinge, die kein vernünftiger Zuschauer bestreiten kann. Erstens: Einen Ballettabend in Karlsruhe anzusehen, ist nie verkehrt. Zweitens: Der Tanz Sylvie Guillems hinterläßt – als Manon oder in Mats Eks „Ajö” – unauslöschliche Eindrücke von ihrer starken, präzisen, unverwechselbaren Art, sich die Bühne zu nehmen, die Schritte, den Partner, die Geschichte. Alles ihrs. Und dann wird sie so zart und einfühlsam und zerbrechlich in diesem Zugriff, dass alles und alle sich ihr wie durch Zauberhand fügen und zu einer Einheit verschmelzen. Außer Konkurrenz.
Und hier die Besten unter denen, die man vergleichen kann.
Bestes Stück mit Nackten: Doch, Nacktheit von Tänzern auf Bühnen kann sehr richtig und geradezu geboten sein und doch kein Beitrag zur großen Pornographie-Debatte mit Moderatorin Charlotte Roche. „Still Standing You” von und mit Pieter Ampe und GuilhermeGarrido etwa – das ist so eine Art Live-Körper-„Morphing” – zwei ringen miteinander, stemmen den anderen, bilden hellhäutige doppelköpfige Wesen, an deren Torsi Arme und Beine in anatomisch staunenswerten Konstellationen befestigt sind. Ampe (aus Anne Teresa de Keersmaekers Ensemble „Rosas”) und Garrido sind zwei nackte Giganten der Antike und im nächsten Augenblick galoppierende Zentauren, Kampf-Zombies, die ein Computerspiel ausgespuckt hat.
Foto: Phile Deprez
Ampe und Garrido sind Komiker, wie sie nur der zeitgenössische Tanz hervorbringen kann, unglaublich athletisch, aggressiv, geladen, irrwitzig in ihrem Furor, aus nichts als ein paar archetypischen Bewegungen und sehr viel Intelligenz ein Stück zu machen, ein Stück, in dem sich zwei Männer an die Wäsche gehen, ohne dass es in der Klamotte endet. Bravo! Das war beim Berliner „Tanz im August” 2010, dem ansonsten nicht mehr buchenswerten, in der Direktion Nele Hertlings aber ein Jahrzehnt stilprägenden Festival.
Fotos: Phile Deprez
Bestes Stück mit Geheimagenten: Nasser Martin-Gousset’s bei der Biennale de Lyon uraufgeführtes auf einer riesigen mit Parkett ausgeschlagenen und zum Publikum hin sanft auslaufenden Half Pipe getanztes „Pacifique”. Darin:
Bester Tanz eines Mannes in Frauenkleidern: Der Choreograph selbst erinnert in High Heels und unter einer blonden Perücke an „Some Like it Hot”. Sagen Sie bloß, Sie haben das auch in Wolfsburg verpaßt?
Bestes Stück mit Fischen: „Forellenqintett”. Martin Schläpfers vor seinem grandiosen Saison-Abschluß mit dem „Deutschen Requiem” von Johannes Brahms entstandenes Meisterwerk in Keso Dekkers herrlicher Ausstattung. FARBE! Licht!, Fluß! Sprünge, Liebe, Schnaps und Gummistiefel. Große Kunst.
Bester Frank Sinatra war Olivier Dubois, der in Lyon „L’homme de L’Atlantique” tanzte und spielte, Dubois ist ein hinreißender Schauspieler, das ist aus Martin-Gousset’s „Péplum” bekannt, und hoffentlich findet er Geld und Veranstalter, damit er berühmt wird. Als Sinatra oder Gottweißwer.
Bester Tschaikowsky-Darsteller: Bruno Meli in Paul Chalmers bewegender florentinischer Neufassung von „Schwanensee”
Die wahnsinnigste Theaterfettexplosion erzeugten, ebenfalls als Lyoner Premiere, Maguy Marin’s „Salves”. Das Publikum kam, während ihm die Film- und Theatergeschichte, Kunst und Politik in einem Bühnenkrimi um die Ohren flogen, aus dem Lachen und Bewundern nicht mehr heraus. Frankreich, deine Tänze sind die schönsten.
Und schließlich gehört Sidi Larbi Cherkaouis und Damien Jalets umjubeltes Stück „Babel (Words”) noch hierher, obwohl es bereits im Frühjar 2010 an der Brüsseler Oper herauskam. Denn bis nach Wiesbaden ein Jahr später führte eine große Tournee diese fabelhafte Auferstehung des Tanztheaters, und nirgends, aber auch nirgends, enttäuschte es sein Publikum.
Sidi Larbi Cherkaoui ist der Choreograph des Jahrzehnts. Aber das nur nebenbei. Und natürlich darf man deswegen noch keine Premiere von Hans van Manen verpassen oder von Michael Laub, der die Burg knackte in dieser Spielzeit.