Die belgische Choreographin und Direktorin von „Rosas” Anne Teresa de Keersmaeker hat die amerikanische Popsängerin Beyoncé Knowles beschuldigt, „Tanzmaterial” gestohlen zu haben. In Beyoncés neuestem Clip „Countdown” will Keersmaeker „almost identical fragments” – „nahezu identische Fragmente” ihrer eigenen Bewegungssprache erkannt haben. Das inkriminierte Material stamme aus ihren 1997 bzw. 1990 verfilmten Tänzen „Rosas danst Rosas” und „Achterland”. Beyoncé habe sie nicht um Autorisierung der Benutzung dieses Materials gebeten und darum habe nun der Anwalt Keersmaekers den Auftrag erhalten, das Management des Stars zu kontaktieren.
Wenn man sich das Video von Nummernmystikerin Beyoncé (Vier ist ihre Lieblingszahl) anschaut und dann den betreffenden Ausschnitt von „Rosas danst Rosas” kann man eigentlich nur höhnisches Gelächter aus den Vereinigten Staaten als Reaktion auf das juristische Vorstelligwerden der Choreographin Keersmaeker erwarten. Sicher, hier wie dort sitzen bekleidete junge Frauen auf Stühlen verteilt im Raum und schütteln ihre Köpfe. Auch steht bei Knowles wie bei Keersmaeker je eine schöne junge Frau aufrecht da und streift ihr T-Shirt von den Schultern herab und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Diese beiden Gesten wie auch das gespannte Sitzen auf Stühlen und In-die-Kamera-Blicken hat aber keineswegs die Choreographin de Keersmaeker erfunden. Es gibt kein Copyright für Über-den-Boden-Rollen, wie es in „Achterland” und im „Countdown”-Clip zu sehen ist. Denn dabei – wie beim Schulterentblößen und Haare-aus-dem-Gesicht-Streichen handelt es sich um im zeitgenössischen Tanz etwa so gebräuchliche Phrase wie das Gehen, Laufen, Hüpfen, Drehen und laut Atmen.
Die Uhr, die Beyoncé anfangs mit ihren wie Zeiger weggestreckten Armen darstellt, könnte man auch als Kopie von Merce Cunningham betrachten, denn der hat auch mal eine Uhr dargestellt als Dirigent. Kennt Beyoncé John Cage und Merce Cunningham? Vielleicht. Kennt sie deren avantgardistische Happening-artige Experimente aus den fünfziger Jahren? Wohl eher nicht, ohne ihr zu nahe treten zu wollen. Das prangert Keersmaeker aber auch gar nicht an, vielleicht kennt sie Cunningham als Uhr auch nicht. Sollen wir gleichwohl – das gegeben – ernsthaft glauben, dass Beyoncé im Netz ein Video einer ihr wahrscheinlich total unbekannten Hochkultur-Tänzerin aus Brüssel entdeckt und nicht wegklickt mit einem Seufzer wie „Look at that Eurotrash!” sondern schreit „Oh my God! This is Hot Stuff!”? Keiner rollt so über den Boden wie die Tänzerinnen von Rosas? Ja, das stimmt, aber darauf haben sie trotzdem kein Copyright. Die Sequenz aus „Rosas danst Rosas”, bei der die Tänzerinnen den Oberkörper nach vorne werfen, sodass ihre Köpfe nach unten hängen, wie auch das Armeschwingen oder zur Seite abknicken würde man sicherlich, käme es hart auf hart, sogar in noch älteren Choreographien von Pina Bausch oder Reinhild Hoffmann entdecken können. Beyoncés Girls tragen Schulmädchenlook? Auch darauf gibt es kein Urheberrecht.
Das Problem ist doch Folgendes. Anne Teresa de Keersmaeker hat als Kind ihrer Zeit ein minimalistisches, von Alltagsbewegungen inspiriertes aber sehr musikalisch phrasiertes Tanzmaterial entwickelt. Es steht in ihren frühen Signaturstücken in einem stark emanzipatorisch definierten Kontext. Das heißt, sie zeigt betont selbstbewußte, selbstbestimmte Frauen in ihren Choreographien, die ihre erotische Macht empfinden und das auch zeigen. Sie paart das aber mit einer sehr spröden Ästhetik, graue T-Shirts, gekachelte Wände, und mit einer gewissen Härte und Strenge in der Ausstrahlung ihrer Tänzerinnen. Ganz offensichtlich benutzt Keersmaeker bei dieser Inszenierung einer neuen Weiblichkeit Stereotypen erotischer Phantasien – Schulmädchenlook, Beine-Übereinander-Schlagen im Sitzen, Blicke, Gesten wie Schulterentblößungen oder Haarberührungen. Sie dreht sie um, das ist ihre Leistung. Darum darf sie auch aufstöhnen, wenn eine jüngere Frau zwanzig Jahre später in einem Clip diese sauberen ästhetischen feministischen Grenzen wieder schmutzig verwischt und Girls zeigt, die man als sexy Abziehbilder sehen kann oder als sexy selbstbewußte R&B-Ladies, die sich nichts mehr vorschreiben lassen, weder von Männern noch von Feministinnen. Und jetzt ist es so, dass man in dieser Welt gerade all das nicht trennen kann, Geldverdienen und Spaßhaben zum Beispiel kann ja auch zusammengehen, vielleicht in „Countdown” von Beyoncé.
[View:https://www.dailymotion.com/video/xliu3w_beyonce-countdown-official-music-vid]
[View:https://www.youtube.com/watch?v=oQCTbCcSxis]
"Die Sequenz aus „Rosas...
“Die Sequenz aus „Rosas danst Rosas”, bei der die Tänzerinnen den Oberkörper nach vorne werfen, sodass ihre Köpfe nach unten hängen”,
ist doch offensichtlich aus der Heavy Metal Kultur geklaut. ACDC et al. sollten ihre Anwälte alarmieren.
Wann parodiert endlich mal jemand Juristen?
Liebe Frau Hüster,
wie recht...
Liebe Frau Hüster,
wie recht Sie haben mit Ihrer Empörung und den Hinweisen darauf, dass einzelne Bewegungen und Tanzelemente wohl nicht unter ein Urheberrecht fallen können. Gleichwohl: Dass da jemand, Frau Keersmaeker oder eine Kollegin, ein Kollege, möglicherweise stutzig wurde, liegt doch bei der Betrachtung der Dinge (https://www.dailymotion.com/video/xljf1f_beyonce-vs-anne-teresa-de-keersmaeker_music) weniger an den Bewegungen als — jedenfalls in der anfangs gezeigten Sequenz — vielmehr an Kameraperspektive und Bildaufteilung. Aber auch da gilt: Frau Keersmaeker sollte sich eigentlich über das augenzwickernde Zitat, wenn es denn eins ist, freuen.
Gruß,
Rollover