Der Beifall rast. Jetzt kommt gewichtig
Onegin, zwängt sich stolpernd vor,
Erhebt sein Glas, durchmustert flüchtig,
Der Logen reichen Damenflor,
Läßt Schmuck, Kostüm und Coiffüren
Sehr nonchalant Kritik passieren,
Und dreht sich unbefriedigt um;
Grüßt da und dort ins Publikum
Mit streng bemessner Etikette,
Beschaut dann, steif zurückgelehnt,
Die Bühne, kehrt sich ab und gähnt
Und murmelt „Viel zuviel Ballette;
Das Personal taugt gar nichts mehr
Und auch Didelot enttäuscht mich sehr.
Alexander Sergejewitsch Puschkin: Eugen Onegin
Wenn man nach der Länge der Wikipedia-Einträge beurteilen wollte, was die Leute wirklich interessiert, was viele Leute brennend interessiert, dann muß man wissen, dass der Eintrag zur Dreikaiserschlacht von 1805 umfangreicher ist und hübscher illustriert als alle Lemmata zum Ballett zusammen. Bygones! Bevor Charles-Louis Didelot jedoch Onegin langweilen konnte (Puschkin schrieb den wundervollen Versroman zwischen 1823 und 1830), galt der Franzose als phantastischer Tänzer, er wurde in St.Petersburg ein beliebter Ballettmeister. Schon 1806 beendete er seine Laufbahn als Tänzer vorzeitig, ein Unfall und der Tod seiner Frau waren die Auslöser dieser Entscheidung. Zwei Jahre später erscheint mit Louis Duport ein neuer französischer Ballettstar auf der Bühne des Zaren. Russlands adlige Jugend begeisterte er für den Tanz, wie aus Leo Tolstois „Krieg und Frieden” zu erfahren ist. Allerdings muß man sich fragen, ob der Autor hier tanzhistorische Ereignisse wie Duports Erscheinen in Russland nicht etwas freizügig zeitlich vorverlegt. Denn der Moment, indem seine junge Protagonistin Natascha Rostow und ihr eben aus dem Feld zurückgekehrter Bruder Nikolaij das nun folgende Gespräch führen, liegt kriegshistorisch 1805/1806 – die Dreikaiserschlacht war am 2. Dezember 1805 verloren. Hat Natascha also Duport noch gar nicht selbst gesehen, sondern nur von ihm gehört? Hatte sie Paris besucht und ihn dort gesehen? Natascha und Nikolaij, das muß man noch wissen, haben ein sehr enges geschwisterliches Verhältnis und finden hier zum ersten Mal nach seiner Rückkehr Gelegenheit, allein miteinander zu sprechen.
„Ah, wie freue ich mich mich, wieder mit Dir zusammen zu sein, fügte er hinzu. „Und wie steht’s mit dir? Bist du deinem Boris auch nicht untreu geworden?” „Ach Dummheiten!”, rief Natascha lachend, „ich denke weder an ihn noch an sonst jemand. Und ich will von niemand etwas wissen.” „Na, sieh mal an. Was ist denn eigentlich los mit Dir?” „Mit mir?” erwiderte Natascha und ein glückseliges Lächeln verklärte ihr Gesicht. „Hast Du Duport gesehen?” „Nein.” „Den berühmten Duport, den Tänzer, hast Du nicht gesehen? Nun, dann wirst Du mich auch nicht verstehen. Sieh mal her, was ich kann.” Natascha faßte, die Arme kreisförmig biegend, ihr Kleid, so wie das die Ballett-Tänzerinnen tun, lief einige Schritte weg, wirbelte herum, machte einen Entrechat, schlug mit den Beinen aneinander und ging einige Schritte auf den äußersten Spitzen der Füsse. „Siehst Du, so stehe ich. Siehst Du das?” sagte sie, aber sie konnte sich nicht lange so auf den Zehen halten. Siehst Du, das kann ich. Ich werde nicht heiraten, sondern Tänzerin werden. Aber Du darfst es niemand sagen.” Rostow lachte so laut und lustig los, dass Denissow in seinem Zimmer ordentlich neidisch wurde” (Das ist Nikolaijs Freund, der Natascha bewundert, d.V.). Auch Natascha konnte sich nicht zurückhalten und lachte mit ihm zugleich.”
Henry James war es, der anmerkte, er halte es für unzutreffend, Puschkins „Eugen Onegin” als Vorläufer der realistischen großen russischen Romane des neunzehnten Jahrhunderts zu verhaften, jener „large, loose, baggy monsters”. Ja, einerseits, aber wenn man bedenkt, wieviel mehr Platz Tolstoi dem Tanz darum auch widmen konnte? Dies ungeachtet der Tatsache, dass John Cranko aus Gründen nicht „Krieg und Frieden” als literarische Vorlage für das dann bedeutendste Handlungsballett des zwanzigsten Jahrhunderts wählte, sondern „Eugen Onegin”.