Manche Leute leiden unter Waschzwang, das ist ein echtes Problem, darüber kann nur Woody Allen Witze machen, sonst niemand. Andere Leute würden gerne alle Theaterzuschauer unter Klatschzwang stellen, und ich finde, die haben ein Problem ohne Witzschonung beantragen zu dürfen. Oder anders angefangen: An Theater ist etwas schwierig, nämlich die Idee, dass man, während man es sieht, so dicht neben anderen Leuten sitzen muß. Meistens riechen die ja gut und sind frisch vom Friseur und wohlhabend und gut erzogen, nicht bloß eins davon und wissen, man putzt sich die Zähne, bevor man unter Menschen geht. Und wenn es dunkel wird, läßt man sein stummes Telefon in der Tasche und schaut auch nicht nach der Uhrzeit oder möglichen Nachrichten von verunsicherten Babysittern und packt keine Bonbons mit lauten Papieren aus. Und man twittert und ratscht auch nicht noch während der Ouvertüre herum, als wären das die letzten Schlager vor den Nachrichten. Na und selbstredend man hat auch keine Freak-Hüte auf wie kürzlich in Paris eine Frau. Die Billetteurinnen des Théâtre de la ville hatten sie durchgelassen mit einer Zuckerhut-ähnlichen Kopfbedeckung, die sie über einem Trainingsanzug auf ihrem Haupt thronen ließ und die sie offensichtlich aus mehreren Hüten spiralförmig zusammengeschnürt hatte. Also die mädchenhaftenPlatzanweiserinnen hatten die – Dame kann man sie eigentlich nicht nennen – hineingelassen, ohne das Hinterlegen des Hutes an der Garderobe erwirkt haben zu können. Murmelmurmel machten die Umsitzenden, nachdem die Auffällige Platz genommen hatte. Aber als es dunkel wurde, ergingen sich die hinter ihr Plazierten in einem vielstimmigen „Chapeau! Chapeau!-Rufen, das der Rest des Saals mit Zeichen der Erheiterung beantwortete. And the Lady removed the hat! Natürlich nur bis zur Pause.
Aggressiv machte das Verhalten der Frau niemanden.
Aber als ich zwei Tage vor Weihnachten in einem deutschen Theater saß und beim Applaus gedämpft freundliche Worte austauschte mit einem Kollegen – anfangs entschuldigte ich mich nur, weil mich während des letzten Teils ein ganz und gar ungewöhnlicher, ununterdrückbar quälender Hustenreiz geplagt und ich den Kampf gegen ihn mehrfach verloren hatte. Ich schwöre, ich huste fast nie während Vorstellungen. Als wir jedenfalls so sprachen und ich von einem Erlaß für Kritiker im Dienst Gebrauch machte, demzufolge ihre Anwesenheit Arbeit ist und sie ihr Gefallen oder Mißfallen durch Applaus nicht verpflichtet sind zu äußern, beugte sich der auf meiner anderen Seite sitzende Herr zu mir herüber. Das war unangenehm, denn er beugte sich weit über den Raum, der ihm durch Kartenkauf zur rechtmäßigen Nutzung zustand hinaus über die geteilte Lehne hinweg in eine unbotmäßige Nähe. Und, das war sofort zu erkennen, er tat dies in der unfehlbaren Absicht, mich durch sein aggressives Verhalten einzuschüchtern oder zu ängstigen. „Sie – !” zischte er aus seinem hellbeigen Tweedanzug heraus („Very British!?”, das Spielzeitmotto der Ballettcompagnie des Hauses hatte ihn offenbar in dieser Weise modisch fehlgeleitet) – „Sie! …haben mir schon den ganzen Mahler verhustet und nun quatschen Sie in den Applaus hinein und klatschen nicht, dabei gehört der Applaus zur Vorstellung dazu!” Terpsichore sei Dank war der arme Mann noch nie in einem Theater im wilden Kurdistan, wo alle während der Vorstellung sich frei fühlen, das Foyer aufzusuchen, wobei sie die Türen hinter sich offen lassen, ein Zarettchen rauchen und zurückkommend das Gesehene und was sie draußen im Foyer erfahren haben, mit ihrem Nachbarn diskutieren. Ich entschuldigte mich bei meinem wütenden Nebenmann und versicherte, die erste still überstandene Hälfte des Abends habe mich nicht vermuten lassen können, das ich den Husten nicht besiegt haben würde. Ich entschuldigte mich noch einmal, denn ich dachte, der Mann habe in seinem Zorn vielleicht nicht recht wahrgenommen, was ich gesagt hätte. Dann, als er weiterschimpfte, bat ich ihn, sich nicht in dieser aufdringlichen unpassenden Weise herüberzubeugen. Er hörte nicht zu. Er war wütend. Vielleicht hatte er gelauscht, was für Scherzworte zwischen dem Kollegen und mir hin- und herflogen. Er rückte mir noch einmal näher. Die Kunst sei kein Ritus, sagte ich. Endlich stand er auf und ging.
Nicht einmal in der Kirche wird der Nebensitzende sauer, wenn jemand auf die Worte des Pfarrers „Lasset uns beten” nicht die Hände faltet. Bei einem Rockkonzert zu tanzen, zu jubeln und die Arme zu schwenken, gehört zum Vergnügen eines Rockkonzerts dazu. Zündet man aber kein Feuerzeug oder keine Wunderkerze an, wird man gar nicht geächtet. Nur ich wurde da im teuren Parkett schlimmer behandelt als ein gegnerischer angereister Zuschauer in der Fankurve des Klubstadions. Theater ist, wenn man ganz nah an fremden Leuten sitzt und doch nicht in der selben Welt lebt.
@perfekt57: Liebe(r?)...
@perfekt57: Liebe(r?) Perfekt57, Sie haben mich mißverstanden. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass der Applaus nicht zur Vorstellung gehört, und dass man mit dem Erwerb einer Eintrittskarte sich nicht zugleich verpflichtet, auch nach Ende der Darbietung ehrfürchtig zu schweigen, sofort zu klatschen, die Meinung des Nebenmannes zu teilen. Und niemand hat das Recht, einem aus welchen Gründen immer auf die Pelle zu rücken, wenn man klar ausgedrückt hat, dass man das nicht möchte. Schon gar nicht ein fremder Mann einer Frau. Auf dem Schulhof ist so was schon kleine Gewalt. Der Rest war Scherz.
Besonders wenn sich die eigene...
Besonders wenn sich die eigene Intelligenz – ganz alleine gelassen – mit der eigenen Toleranz zusammentut, sind häufig immer nur die anderen Schuld.
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Und Leben heute: Außerdem fragten wir uns bei solcherart von Konflikten in letzter Zeit neuerdings häufiger – wir reden ja von einem relativen “Jetzt”, und von keinem “Gestern” – wer denn da nun womöglich welche Pillen eingeworfen hätte (oder unter sonstigen angeborenen oder sonstwie zentral gesteuerten Fehlleitungen litte): Sie die kleine Aufheller (welche ggls. auch ins ganz eigene “Glück” mit “zentrieren”, “milde absperren” würden) oder ob “der Aufreger” evtl. zu wenige von seinen “Zentral-Dämpfenden” eingeworfen. (immer noch “hätte”, s.o.)
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Und natürich hatte sie selbst nichts genommen. Da das aber heute nicht immer so ganz grundsätzlich klar ist – tatsächlich nicht – gibt es eben selbstverständlich auch weiterhin auch noch die vielfältige Drittperspektive.
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Und selbstverständlich ist es immer peinlich und dumm, dass alle anderen, wo immer man auch hinkommt, immer soviel weniger intelligent, gebildet, nett, charmant, vermögend, gut aussehend, erfahren, umgänglich, anzüglich und begehrenswert sind, als man selbst. aber was wollte man machen? immerhin darf dann die welt aber zumindest ständig dankbar sein, sollte das zumindest, wenn sie eben nicht so dumm und so undankbar wäre, dass man sich mit ihr trotzdem abgibt. obwohl sie überall minderwertig, häßlich, dumm, oberflächlich, zweitklassig, langweilig und fast unerträglich durchschnittlich ist: leiden hat immer objektive gründe!