“Merce Cunningham reinvented dance and then waited for an audience” Mikhail Baryshnikov
Eines der größten Vergnügen, die das Leben mit Kindern beschert, besteht darin, die Freuden der eigenen Kindheit ein zweites Mal zu entdecken und mit ihnen teilen zu können. Natürlich stellt man sich zu dieser Jahreszeit auf frisch geschliffene Kufen und hofft, außer mit diesen keinen Kontakt mit der spiegelglatten Fläche unter ihnen zu bekommen. Man wundert sich nur noch, einmal, dass man das wieder beherrscht, und fragt sich, wieso Erwachsene Kinder brauchen, um das Schlittschuhlaufen wiederaufzunehmen. Manche jedenfalls.
Frederick Ashton’s 1937 geschaffenes Eiskunstläuferballett „Les Patineurs” etwa kommt ohne ein einziges Kind aus. Das ist aber schon der einzige nachdenklich machende Aspekt des Stücks. Es vermittelt erstaunlicherweise die aufregende Sensation, über das Eis zu gleiten noch Leuten, die sich gerade in ihre Sofas schmiegen und, indem sie einen „Prince of Wales” trinken, die Wolldecke hochziehen und schwören, niemals würden sie und genausogut könnten sie gleich….Es sind – wovon man sich in der in diesem Jahr bei Opus Arte veröffentlichten DVD „Frederick Ashton. Les Patineurs. Divertissements. Scènes de Ballet” überzeugen kann – Erwachsene, die sich in „Les Patineurs” beim Schlittschuhlaufen amüsieren. Erwachsene, oder wie es Christopher Carr, einer der britischen Ballettmeister, die für die Einstudierung dieses Werkes verantwortlich zeichnen, formuliert, doch etwas mehr als Erwachsene: „Top ranking skaters”. Auf einer von Blumengittern eingerahmten und in den verschneiten Bäumen aufgehängten Lampions erleuchteten viktorianischen Eislaufbahn cruisen zu Constant Lamberts aus Meyerbeer-Melodien gesampelter Musik der „Blue Boy”, das „White Couple” oder die „Blue Girls”.
Wie geht das, Eiskunstlauf darstellen ohne Kufen oder Rollen an den Füßen? „Sir Frederick loved chassé”, erklärt Royal Ballet-Ballettmeister Gary Avis, Ashton liebte die klein oder groß auszuführende Überleitungsbewegung des Nachstellschritts. In seiner Version sur glace imaginaire schleifen die Füße ein wenig länger am Boden und geht der Blick mit dem jeweils vorderen Fuß, knapp über das jeweilige Knie hinwegschauend.
Am Pas de deux des weißen Paares ist ihr Fan Lift, die Fächerhebung, bestimmt das aufsehenerregendste Element. Auf dem unteren Rücken ihres Partners legt die Ballerina ihre Hüfte ab und öffnet ihre Beine in der Luft auf hundertachtzig Grad, sodasss ihr wadenlanger Tüllrock sich wie ein Fächer über den beiden aufspannt. Einmal wird der fan lift kurz gezeigt in diesem Pas de deux, Staunen, aber dann wird er noch einmal kurz darauf wiederholt, und dann drei Mal hintereinander. Ansonsten, sagt Sarah Lamb auf den Bonus Tracks der DVD, sei die Rolle nicht schwierig. Man müsse nur Rupert Pennefather (ihren Partner) anlächeln, und genau das eben sei gar nicht schwer.
Christopher Carr, der mit Steven McRae dessen Blue Boy einstudiert hat, sagt, „Les Patineurs” sei überhaupt nicht gealtert: „It could have been choreographed yesterday, to be honest with you. It’s up to date, it’s technically difficult as it could be. It looks fresh and bright to me. It hasn’t aged”. (Um ehrlich zu sein, es hätte doch gestern choreographiert worden sein. Es ist heutig, es ist technisch so schwierig, wie es nur sein könnte. Also für mich sieht es frisch und strahlend aus. Überhaupt nicht gealtert.)
Steven McRae grinst erschöpft und sagt: „The Blue Boy ist Candy Ice, I guess you could say, confident, quite cocky, likes to show off his tricks.” – Der Junge in Blau, das ist natürlich Zucker, selbstbewußt, großspurig, liebt es, seine Kunststückchen vorzuführen.”
Es sei hart sich vorzustellen, dass das von Tänzern 1937 getanzt worden sei, denn es sei so schwierig, aber seit 1937 habe sich das Tanzen doch so sehr verbessert. Aber er empfände es so, als würden die technischen Anforderungen an Tänzer eigentlich jedes Jahre noch höher.
Und die Mädchen in Blau? Samantha Raine dreht 28 Fouettés (dazwischen à la seconde, was eigentlich nur Männer machen). Akane Takada dreht passé und dazwischen attitude-Drehungen mit sehr schnellen Armwechseln en manège – extrem schwer zu machen…..
Wie nur verströmt das Ganze das ruhige Vergehen eines Winternachmittags auf einer verschneiten Waldlichtung?
„Les Patineurs” ist noch nie ganz in der Versenkung verschwunden, so schön ist es. Quasi als Bonus sind auf der DVD noch einige Divertissements („Frühlingsstimmen”, „Thais-Pas de deux” und „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan”) und Ashtons Strawinsky-Tanz „Scènes de Ballet”, der neuerdings vom Bayerischen Staatsballett interpretiert wird. Studieren. Vergleichen. Im neuen Jahr weiter darüber nachdenken. Und heute tanzt in New York zum letzten Mal die Merce Cunningham Dance Company. Darüber nicht nachdenken. Good bye, MCDC. Happy new dance year, everyone.