Foto: Dirk Buwal
Er sei jetzt dreiundsechzig Jahre alt und habe den Wunsch seine Erfahrungen zu teilen, sagt Jiri Kylian in: „Jiri Kylián. Forgotten Memories – Mémoires d’oubliettes”. A Film by Don Kent and Christian Dumais-Lvowski.” Seien diese Erfahrungen nun wertvoll oder wertlos, aber darin liege auch sein Motiv, an diesem Dokumentarfilm über Jiri Kylian, geboren 1947 in Prag, vierundzwanzig Jahre lang der Direktor des Nederlands Dans Theater, mitarzubeiten. Einmal geteilt, könnten diese Erfahrungen ja dann jederzeit weggeworfen werden: „Boff!” sagt er zu den Tänzern vor ihm im Saal und die werfen sich wie ein Mann hintenüber und knallen auf ihre Rücken. „Yes”, zischt Kyliàn leise und zufrieden zwischen den von einem akkurat getrimmten Bart gesäumten Lippen hervor.
Tänzer mit nackten Oberkörpern, dunkle Typen mit Tätowierungen auf den Schulterblättern greifen synchron sich selbst von hinten in den Schritt., gleiten über Boden, hechten durch den Raum.
Kylián fährt Rad, Kylián probt, Kylián philosophiert. Hunderte von Männern in grauen, braunen und schwarzen Mänteln mit grauen, braunen und schwarzen Hüten seien seine erste Erinnerung, sagt der Choreograph und die Kamera zeigt die Schwarzweißfotografie in seinen Händen – da stehen diese Männer auf einem öffentlichen Platz in Prag, einige von ihnen blicken in die Kamera. Eine andere Aufnahme zeigt den dreijährigen blonden Jungen, der in kurzen Hosen auf der Brücke sitzt, in seiner Heimatstadt Prag, auf jener Brücke, die er später jeden Tag überqueren mußte um zur Ballettschule zu gelangen. Die Eltern waren unterschiedlicher Meinung, was Jiris Berufswunsch anging. Der Vater, ein Banker, war strikt dagegen, die Mutter, ein ehemaliger Kinderstar („Shirley Temple”, lacht Kyliàn) ganz indifferent.
Als Kind sah er deutschen Zirkus und wollte dieser Welt angehören. Er liebte die Körperlichkeit der Akrobaten, aber auch von Sportlern von Anfang an.
Die Schule für Akrobatik aber war geschlossen und so nahm die Mutter den Knaben mit in eine Ballettaufführung. „Da verkaufte ich meine Seele dem Teufel und bin bis heute bei ihm geblieben”, sagt Kyliàn sinnend am Fenster seiner ersten Ballettschule. Am Konservatorium studierte er klassischen Tanz, Graham-Technik und Folklore, außerdem Klavier, Russisch und Tschechisch.
Mozart und Kafka schildert er als ldie größten, ihn lebhaft beeindruckenden Einflüsse im Prag seiner Jugend.
Ein Stipendium führt ihn 1967 / 1968 an die Londoner Royal Ballet School. In den englischen Zeitungen erfuhr er, was in Prag los war, kehrte glücklich zurück. Eine Woche später rollten die Panzer. Die Euphorie und die anschließende Depression seien unbeschreiblich gewesen. Ihn rettete, dass er in London mit John Cranko einen Vertrag als Tänzer in Stuttgart unterzeichnet hatte. Er erwischte den letzten Zug nach draußen. „Wir dachten, der Kommunismus würde ewig herrschen”.
In Stuttgart fördert Cranko den jungen Tänzer mit choreographischen Ambitionen und er begegnet Sabine Kupferberg, die sein Leben von 1973 an teilt.
Seine Vorliebe für Pas de deux’ erklärt Kyliàn damit, dass es wichtig sein, was in einem tief verborgen sei, zu kommunizieren. Abstrakten Tanz gebe es für ihn nicht.
Was ihn interessiere? Geschwindigkeit, Zeit und das Altern. Choreographen und Tänzer seien eine gefährdete Spezies, fragile, zerbrechliche Persönlichkeiten. Bilder von Aufführungen. Kylián fährt Rad.
„Jiri Kylián. Forgotten Memories – Mémoires d’oubliettes”. A Film by Don Kent and Christian Dumais-Lvowski.” Dokumentation. Mit der Choreographie „Wings of Wax”.Arthaus Musik 101579, in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln, 2011