Kenneth MacMillan (1929 – 1992) war ein klassischer Virtuose, oder nein, er war ein wundervoller romantischer Tänzer-Darsteller, und am besten in John Cranko’s „The Lady and the Fool”. So widersprechen einander Clive Barnes und Clement Crisp, zwei Tanzkritiker, die sich nicht recht einigen können und doch beide das Richtige meinen, wenn man die Fotografien, auf denen MacMillan in tänzerischen Partien zu sehen ist, genau betrachtet. MacMillan aber fand das tägliche Training, ohne das auch sein Körper nicht zu jenen außergewöhnlichen Vorstellungen, die er gab, imstande gewesen wäre, entsetzlich ermüdend, vor allem in geistiger Hinsicht. Es bereitete ihm immer größere Mühe, sich durch die tägliche Routine zu kämpfen und so gab er eines Tages einfach auf und beschloß nur noch zu choreographieren. Debütierte der Tänzer 1948 sechzehnjährig am Sadler’s Wells Opera Ballet, fiel er nur sieben Jahre später mit „Danses concertantes” als die erstaunlichste choreographische Begabung Englands auf, „der neue Erbe”, wie Crisp treffsicher feststellte. Heute besteht natürlich nicht mehr der geringste Zweifel daran: Kenneth MacMillan ist neben Frederick Ashton und ganz verschieden von ihm – der bedeutendste britische Choreograph unserer Zeit. Bis heute spielen die Theater seine großartigen dramatischen, wundervoll musikalischen, choreographisch mitunter überwältigend originellen Ballette – seine Version von „Romeo und Julia” vor allem, aber auch „Mayerling”. Vielleicht das berührendste und erzählerisch weitgespannteste Werk aber ist „Manon”. Anfang des vergangenen Jahres gab Sylvie Guillem ihre letzten Vorstellungen in dieser Rolle, unvergeßlich, wie sie es vermochte, das Schicksal dieser Kurtisane zu ihrem zu machen. Die bis auf den letzten Platz gefüllte Mailänder Scala wagte es kaum, zu blinzeln, um ja keinen Augenblick dieser fabelhaft zeitgenössischen, wilden und ergreifenden Interpretation zu versäumen. Noch bis zum 13. Mai spielt das Ballett der Pariser Oper „Manon”, und vom 23. Juni bis zum 1. Juli tanzt das Japanische Nationalballett „Manon” in Tokyo. Acht Vorstellungen von MacMillan’s letztem abendfüllenden Ballett „The Prince of the Pagodas” zeigt das Royal Ballet in London’s Covent Garden vom 2. Juni an. „Elite Syncopations”, MacMillan’s witziges Ragtime-Ballett zu Musik von Scott Joplin wird vom National Ballet of Canada in Toronto präsentiert, wieder vom 13. – 17. Juni.
Selbst in Deutschland, das MacMillan eine schauerliche Zeit bereitete, als er sein Schicksal herausforderte in der Rolle des Ballettdirektors an der Deutschen Oper, stehen seine Werke auf dem Spielplan. Das Bayerische Staatsballett hat „Das Lied von der Erde” bis vor zwei Abenden getanzt, am 9. und 10. Juli ist dort wieder „Las Hermanas” zu erleben, MacMillan’s vor Spannung bebende Inszenierung von „Bernarda Albas Haus”, die einzige sehenswerte Ballett-Version des Stoffs.
Nicht nur schuf John Cranko für seinen Freund und Kollegen dessen besten Part in „The Lady and the Fool” – das beim Stuttgarter Ballett im Mai mehrfach gezeigt wird – er baute MacMillan auch eine sehr wichtige Brücke nach Deutschland. Oder besser, Cranko bot ihm mit dem Stuttgarter Ballett eine Compagnie, in der er ungestört und unbelastet von den Einmischungen am Royal Ballet arbeiten konnte. Darum auch kam „Das Lied von der Erde” in Stuttgart heraus – das Royal Ballet hatte Mahlers Musik für choreographisch sakrosankt erklärt.
Wie umstritten MacMillan zu seinen Lebzeiten war, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Wer nicht das Glück hat, eine der aufgeführten Vorstellungen, die ja doch einigermaßen über die Welt verstreut stattfinden, besuchen zu können, kann eine Reihe sehr faszinierender Ballett-DVDs anschauen, die alle noch erhältlich sind. „Romeo and Juliet” zeichnete die BBC 1984 in einer Aufführung mit Wayne Eagling und Alessandra Ferri auf (Warner Music). „Winter Dreams” ist eine Version von Tschechows „Drei Schwestern” und existiert in einer Verfilmung mit der Originalbesetzung, Irek Mukhamedov als Colonel Werschinin und Darcey Bussell als Mascha. Auf dieser DVD ist Derek Bailey’s Porträt des Choreographen zu sehen, das einstündige „Out of Line”.
Man fragt sich, was aus dem Jungen, dessen Vater nach dem Krieg ein kranker und schwacher Mann war und dessen Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war, in einem Nest in Norfolk wohl geworden wäre, hätte er nicht das Tanzen für sich entdeckt. Mit fünfzehn Jahren las er in „The Dancing Times” eine Annonce der „Sadler’s Wells Ballet School”. Er schrieb im Namen seines Vaters an die Schule und bat, zur Audition zugelassen zu werden. Im Training mußte er sich zwischen Margot Fonteyn und Beryl Grey an die Stange stellen, eine furchterregende idee. Aber er stand es durch und wurde genommen.
So wurde aus diesem in Schottland geborenen frühen „Billy Elliott” der Mann, der die meisten abendfüllenden Handlungsballette in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schuf. An dem Abend des 29. Oktober 1992, als MacMillan backstage in Covent Garden starb, tanzte das Birmingham Royal Ballet seine „Romeo und Julia”, während das Royal Ballet die Wiederaufnahme von „Mayerling” präsentierte.
„The Prince of the Pagodas”, seiner Britten-Choreographie und seinem letzten abendfüllenden Werk, waren Jahre der Vorbereitung und ein Besuch bei Britten eine Woche vor dessen Tod vorausgegangen. Es hatte MacMillan enorme Anstrengung gekostet. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit gestatteten die Ärzte ihm nur anderthalb Stunden Arbeit pro Tag, das Royal Ballet richtete sich ganz nach ihm und so dauerte es ein volles Jahr, bis sich der Vorhang zur Premiere hob. Auch dieses Ballett gibt es als Aufzeichnung. Und schließlich ist 2010 eine DVD erschienen, die „Elite Syncopations” (1974), „The Judas Tree” (1992) und „Concerto” (1966) vereint.
Besonders „The Judas Tree” zeigt, warum MacMillan umstritten war. Lieblich und süß waren seine Ballette überhaupt nie, er griff nach Themen und Stoffen, die dem Ballett bis dahin niemand zugetraut hätte umsetzen zu können. Viele meinten, daran habe das Ballett Schaden genommen: „Warnung”, steht auf der DVD darum, „The Judas Tree” enthält Szenen gewalttätiger und sexueller Natur”. Das wurde ja damals auch Zeit.