Es ist ja doch ganz einfach zu begründen, warum eine bestimmte Zeitschrift die eine und einzige Lieblingszeitschrift ist – meine zum Beispiel ist die amerikanische „Ballet Review”. Warum? „Ballet Review” ist so wie der „Russian Tea Room”: so vollkommen New York. Wenn man diese Zeitschrift durchblättert, weiß man, wo das Zentrum der Tanzwelt liegt, da nämlich, wo die Exilrussen Tee trinken, in der Stadt, für die Alexej Ratmansky das Bolschoi-Ballett verließ, da, wo Martha Graham, Merce Cunningham, und George Balanchine lebten. Das Magazin ist schwarz-weiß, wird im Din-A-5-Format gedruckt und die aktuelle Ausgabe „Winter 2011-12″ umfaßt exakt einhundert Seiten. Mind you, die U4, also die Heftrückseite, wird für Texte genutzt, bis zur letzten Zeile. Warum Platz vergeuden mit läppischen Anzeigen für Tanzteppiche, Schläppchen oder Spitzenschuhe oder Tanzfestivals? Die einzige Werbung auf der Seite ist ungefähr streichholzschachtelgroß und zeigt das Cover von Edward Gorey’s wundervollem Erwachsenen-Bilderbuch für den etwas anderen Balletomanen „The Lavender Leotard” – Das fliederfarbene Trikot – und teilt in der Unterzeile mit: „Ballet Review’s facsimile edition of The Lavender Leotard is available online from Edward Gorey House at goreystore.com.”
Auf der Seite kann man auch alle anderen phantastisch gezeichneten, mehr oder weniger düsteren, mitunter makaberen, aber immer herrlich mysteriösen Gorey-Bücher kaufen. „The Lavender Leotard” wurde zum fünfzigjährigen Bestehen des New York City Ballets veröffentlicht. Aber auch die anderen Bücher des 2000 verstorbenen Autors und Illustrators haben schöne Titel: „The Gilded Bat” (auch ein Ballett-Buch), „The Gashlycrumb Tinies” etwa oder „The Tvelve Terrors of Christmas”.
Zum Geisterhaften und Unheimlichen unterhält das Ballett traditionell enge Verbindungen. Darauf verweist nicht nur die kleine Gorey-Reklame, sondern auch ein lesenswerter Aufsatz von Senior Editor Don Daniels. Darin berichtet er, Edward Bigelow, aide-de-camp von Lincoln Kirstein und George Balanchine, habe ihn gelehrt, es sei nichts Ungewöhnliches, Geistern auf und hinter der Bühne zu begegnen, das müsse einen auch nicht ängstlich stimmen, denn man stelle sich mit der Zeit auf ihre Anwesenheit ein. „Eddie”, wie Don Daniels den langjährigen Tänzer und Assistenten Balanchines nennt, der 2011 im Alter von dreiundneunzig Jahren auf einem Highway starb (oder kann man sich City Ballet Tänzer vorstellen, die in einer „Zone 30″ sterben? Nein!), Eddie meinte das ernst. Der um Rationalität ringende Daniels schreibt, jeder kenne dieses Phänomen, der schon einmal eine sehr gute Ballerina in der Übernahme einer Rolle beobachtet hätte, denn da habe jeder Zuschauer das Gefühl, den Geist ihrer berühmten Vorgängerin, für die die Rolle im Original geschaffen wurde, um die tatsächlich tanzende Ballerina schweben zu sehen.
An Schwärze bleibt Daniels kaum hinter Gorey zurück, wenn er schreibt, nicht nur hätten Ballerinen eine Aura (harmlos), sondern geisterhaft sei es, wenn Werke wiederaufgenommen würden, die man längst auf dem Friedhof zurecht vergessener Stücke geglaubt habe oder wenn Choreographen sich erneut ans Werk machten, die man dem Vergessen anheimgefallen geglaubt habe.
Außerdem bemerkenswert: Darrell Wilkins’ feinfühliger und intelligenter Aufsatz über das Vermächtnis von Merce Cunningham und Joel Lobenthals langes Gespräch über ihr langes Leben mit der ehemaligen City Ballet-Tänzerin Patricia Wilde, die berichtet, wie sie ihre Kindheit hindurch Schnee schippen mußte, wenn ihre Mutter im kanadischen Winter mit ihr vom Ballettunterricht wieder nach Hause auf ihre Farm gelangen wollte.
Wie nicht von dieser Welt waren die Manieren ihres Chefs Balanchine. Sie solle einen Vertrag bei ihm unterzeichnen: „Sign your contract, but after London, if you’re not happy, you can do what you want.” Das machte Wilde glücklich.