Foto Wolfgang Enck: Monique Janotta in der Titelrolle von Erich Walters “Giselle” zwischen Lazo Turoci als Hilarion (links) und Falco Kapuste als Albrecht
Im Oktober 1993 druckte „The Independent” einen Nachruf für den italienischen Startänzer Paolo Bortoluzzi, Jahrgang 1938. Darin macht der Autor, Peter Brinson, eine interessante Bemerkung über die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Entwicklung des Tanzes. Stärker als die anderen Künste habe der Tanz unter den zerstörerischen Folgen des Krieges gelitten, schreibt er. Nicht nur seien talentierte Tänzer eingezogen, verwundet oder getötet worden. Auch hätte eine ganze Generation im Krieg und nach dem Krieg wahrlich andere Prioritäten gesetzt und Werte verinnerlicht, als solche, die in eine Tanzkarriere mündeten. Noch in den gesamten fünfziger Jahren habe der englische Männertanz die Effekte dieser Zerstörung erkennen lassen, und um vieles mehr der kontinentale: „Der Tanz in Europa litt noch tiefgreifender unter der Auslöschung einer ganzen Generation, der Zerstörung von Theatern und Trainingszentren und durchdringender moralischer Verirrung, besonders in Frankreich.” Erst in den frühen sechziger Jahren, so Brinson, hatte eine Nachkriegsgeneration diese Verluste ausgleichen können. Die Niederlande, Deutschland und Italien hätten eine regelrechte Renaissance des Tanzes angeführt.
In Deutschland fällt für diese Zeit in der Regel ein Name – der des in London als Tänzer und Choreographen hervorgetretenen, in Südafrika geborenen Stuttgarter Ballettdirektors von 1961 bis 1973, John Cranko.
Interessanterweise hat dessen Berühmtheit und mehr noch vielleicht die Entwicklung des Tanztheaters als genuiner deutscher Nachkriegserrungenschaft im Tanz überdeckt, dass es noch andere Orte, andere Choreographen, andere Werke gab.
Die Favorisierung des Tanztheaters in der deutschen Theaterlandschaft verhindert auch ein wenig die Wahrnehmung, dass die Moderne im Tanz durchaus nicht allein mit dem Expressionismus, dem Ausdruckstanz identisch ist. Die großen Ausstellungen und Premieren anläßlich des einhundertjährigen Jubiläums der Gründung von Sergej Diaghilews großen „Ballets Russes” haben gründlich nachgewiesen, welchen erfolgreichen und bis heute nachwirkenden Beitrag zum Aufbruch der Künste in die Moderne das Ballett zwischen 1909 und 1929 leistete.
Ein Beispiel: Ein Name, der zu Unrecht etwas in den Hintergrund geraten ist, ist der des Ballettdirektors Erich Walter. Zunächst von 1953 bis 1964 in Wuppertal engagiert, gelang es ihm während dieser zehn Jahre, mit einer individuell ausgeprägten neoklassischen Sprache eine beeindruckende Zahl moderner und zeitgenössischer Kompositionen tänzerisch umzusetzen. In enger Zusammenarbeit mit seinem Bühnenbildner Heinrich Wendel entwickelte Walter eine sensible Dramaturgie und faszinierende visuelle Qualität in seinen Werken. Von 1964 bis zu seinem Tod 1983 leitete er das Ballett der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf / Duisburg. Hier gelang es ihm, aufgrund seiner Erfolge die Compagnie so zu vergrößern und sie tänzerisch so zu bilden, dass sie stilistisch vielfältig einsetzbar war und das Repertoire schließlich auch durch eigene Versionen klassischer Werke des Kanons ergänzt werden konnte. Wenn man mit ehemaligen Protagonisten Erich Walter spricht, etwa mit Monique Janotta, seiner Primaballerina, mit dem von der Deutschen Oper in Berlin abgeworbenen Falco Kapuste oder dem faszinierenden Historiker der eigenen Tänzerzeit, Wolfgang Enck, dann sind sich alle einig, dass diese Klassiker-Interpretationen sozusagen im „Kielwasser” (Enck) der zuvor geleisteten durch und durch zeitgenössischen Ballettarbeit Walters entstanden. Keineswegs war dieses Interesse an der Ballettgeschichte in Gestalt von Werken wie „Giselle”, „Schwanensee” oder „Cinderella” ein vorgeschobenes oder um der Zuschauerzahlen willen geheucheltes.
Eine eigene Ästhetik, ein Reigen fabelhafter, charakteristischer Solisten, ein interessantes Repertoire, eine kluge, historisch informierte, ausbalancierte Spielplandramaturgie, echtes Interesse an der musikalischen und bildnerischen Moderne und Gegenwart – man fragt sich, welche Qualitäten die Arbeit einer Ballettcompagnie noch auszeichnen sollen, um ihren anhaltenden Ruhm zu begründen. Enck weist darauf hin, wie geschickt John Cranko sich in der internationalen Ballettwelt zu vernetzen gewußt habe. Erich Walter habe so nicht agiert. Als erstes Ballettwunder Deutschlands nach dem Krieg sei Wuppertal bezeichnet worden, erst später wurde der Begriff auf Stuttgart, das man heute allein damit identifiziert, übertragen. Die regionalere, bescheidenere Orientierung entsprach Erich Walters Wesen eher. Einmal habe er, bei einer Probe am Klavier stehend und auf die Partitur von Strawinskys „Sacre du printemps” blickend sinngemäß bemerkt, Kompositionen würden die Zeiten überdauern, seine Tänze nicht. Das war unnötig bescheiden, aber bedauerlich realistisch. Zwar blieben manche seiner Produktionen mehr als zwanzig Jahre im Repertoire und wurden über diesen langen Zeitraum regelmäßig wiederaufgenommen, aber Notationen existieren von ihnen nicht.