Eine Journalistenregel besagt, man porträtiert niemanden, den man nicht mag, – das bedeutet natürlich, dessen öffentliche Person einem nicht gefällt. Denn es geht nicht um die private Person. Gleichwohl muß man, wenn man einen Künstler im Hinblick auf seine Arbeit, sein Werk, beschreiben will, sich ihm nähern, zu der Person in Kontakt treten, eine Atmosphäre schaffen für Gespräche, muß erreichen, dass jemand zuläßt, dass man ihn oder sie beobachtet. Ein Porträt ist viel mehr als ein Interview. Ein Interview kann jemanden auch dumm dastehen lassen. Ein Porträt entsteht vielleicht, wenn ein Interviewer im ersten Gespräch fand, dass der Interviewte gescheite Antworten gegeben hat und die Welt mehr über diesen Menschen erfahren wollen könnte.
Die Hamburger TV-Dokumentarfilmerin und Autorin Bettina Pohlmann hat mit einem 52-minütigen bei Arte ausgestrahlten Feature anhand bestimmter Tänzer und Schüler von John Neumeiers „Hamburg Ballett” und dem dazugehörigen Ballettzentrum zeigen wollen, was es bedeutet, wenn der Tanz das Leben eines Menschen bestimmt. „Nichts als Tanzen”, so der Titel der Dokumentation, wurde im April 2011 ausgestrahlt. Darin erfuhren die Zuschauer, dass Sylvia Azzoni, Erste Solistin des Hamburg Balletts, mit Alexandre Riabko zusammenlebt und überlegt, wann der geeignete Zeitpunkt für das erste gemeinsame Kind sein könnte. Paul, Ballettschüler, zeigte seine Kuscheltiere. „Nichts als Tanzen” schaute man gerne, weil man neugierig auf die Tanzwelt wird.
Nun wollte Bettina Pohlmann mit zusätzlich gefilmtem Material aus der bereits ausgestrahlten Fernsehfassung eine Kino-Version herstellen. Doch als sie eine Rohschnittfassung des geplanten Dokumentarfilms John Neumeier zeigte, fiel dessen Reaktion alles andere als zustimmend aus. John Neumeier hat inzwischen auch öffentlich erklären lassen, dass er über die Aufnahmen seiner Werke, die der noch nicht fertige Film enthält, unglücklich ist. Er ist der Auffassung, dass das Kinopublikum nach Wim Wenders’ spektakulärem Film über Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal und nach dem Film über das Ballett der Pariser Oper andere Bilder erwarten darf als jene in Pohlmanns Film. Außerdem bemängelt Neumeier, alle Mitwirkenden seien gebeten worden, auf ihre Rechte zu verzichten solange bis der Film Gewinn eingespielt habe und das könnten sie legalerweise von keinem Beteiligten verlangen.
Pohlmann war daran gelegen, den kleinen Paul so schön zu porträtieren, wie der ernste, kleine, angehende Tänzer es verdient. Sie wollte genau schildern, welche Skrupel Joelle Boulogne befielen, wenn sie daran dachte, dass sie irgendwann in nicht zu ferner Zukunft aufhören müßte, Hauptrollen bei John Neumeier zu tanzen und anfangen mit ihrem Liebsten, einem Koch in Südfrankreich, ein ganz normales Leben zu führen, ohne die Flucht auf die Bühne.
Das ist ihr genau gelungen. Riabko und Azzoni wirken so glücklich und präzise mit ihrem frischgeborenen Baby im Arm. So schön.
Und da kommen wir zum Problem. Die Porträtierten hat Pohlmann nach der Jounalistenregel behandelt. Aber sie hat übersehen, oder unterschätzt, wie der Mann, der sich als das heimliche Zentrum des Lebens all dieser Menschen betrachtet, sich in diesem Film behandelt sieht. John Neumeier kommt nicht so wirklich vor in diesem Film. Das stimmt. Und seine Ballette sind ordentlich, abr nicht spektakulär gefilmt. Insofern kann er diesem Film seinen Applaus verweigern. Denn seine Ballette sehen nicht – wie sonst alles im Kino – larger than life – besser als auf der Bühne aus.
Man kann eben nicht Tänzer porträtieren, deren berufliches Dasein einem einzigen Choreographen und Ballettdirektor gilt, und diesen dann so verschwindend vorkommen lassen. Nicht, wenn dieser Mr. X John Neumeier heißt. Von einer Dokumentarfilmerin muß man dieses Gespür verlangen können. Pohlmann hätte wissen müssen, dass es so nicht funktioniert in der Welt John Neumeiers. Ihre Porträtierten sind Teile eines Systems, dessen Zentrum nicht vorsieht, dass es außer acht gelassen wird.
Andererseits hat John Neumeier auch recht damit zu sagen, er sei von den Bildern seiner Ballette enttäuscht. Natürlich könnten diese Werke unter den Händen anderer Kameraleute und Regissuere toller aussehen.
Wenn man wie Pohlmann das Risiko eingeht, ein echtes Porträt zu entwerfen, dann schließt das immer die Möglichkeit des Scheiterns ein. Sie hat die Lebens- und Arbeitsumstände ihrer Protagonisten falsch eingeschätzt oder sie ist mit einer vielleicht realistischen Einschätzung falsch umgegangen. Porträts können scheitern. Sie bergen Risiken nicht nur für die Porträtierten.
Stellungsnahme zum...
Stellungsnahme zum Blog-Beitrag von Frau Hüster
Als Journalistin und Regisseurin dieses Films sehe ich mich gezwungen, einige der im Text falsch gemachten Angaben und Andeutungen/Vermutungen von Frau Hüster gerade zu rücken.
Ich, Bettina Pohlmann, hatte nie vor, ein Porträt über John Neumeier zu drehen. Hätte ich das vorgehabt, hätte der Film a) keine zweifache Filmförderung bekommen und b) hätte keiner der beteiligten Sender seine Zustimmung gegeben.
Es sollte, so der allgemeine Wunsch, ein Film mal nicht über ihn, sondern ausschließlich über seine Tänzer werden – die ich im übrigen sehr mag.
John Neumeier kannte sowohl die TV-Fassung dieses Films als auch sämtliche Tanzsequenzen, da er persönlich in den Schnitt kam, um diese abzunehmen.
John Neumeier hat uns ein sehr langes Interview gegeben. Ich habe mich allerdings dagegen entschieden, die O-Töne des gesetzten Interviews in die Kinofassung zu nehmen, sondern stattdessen rein situative Momente/O-Töne mit JN gewählt. Die gesetzten O-Töne stammen allesamt von den Tänzern, Ballettmeistern und seinen Schülern.
Nachdem er diese Fassung ohne seine O-Töne abgelehnt hatte, weil er dann zu wenig im Film vorkäme, hatten wir (Verleiher, Produzent und ich) ihm angeboten, die Klammer des Films zu sein, das heißt den Film mit einem langen O-Ton zu eröffnen und mit einem langen O-Ton zu beenden. Das lehnte er ab.
Über die Tanzsequenzen im Film hat JN selbst sich nie geäußert. Dass sie „natürlich unter den Händen anderer Kameraleute“ als durch den mehrfach Preis gekrönten Kameramann Marcus Winterbauer „toller aussehen“, ist einzig Frau Hüsters Meinung.
Dass die Bilder von John Neumeiers Choreographien im Film „bigger than life“ aussehen sollen, war nie unsere Absicht. Wir wollten den Blick hinter die Kulissen zeigen, aus Sicht der Tänzer: das tägliche Training, das Einarbeiten einer Choreographie, die Einzel-und Durchlaufproben, und erstmalig den Blick während der Aufführung von der Seitenbühne aus – eben all das, was der Zuschauer sonst nicht zu sehen bekommt.
Dass John Neumeier den Ballett-Interessierten diesen intimen Blick auf den Alltag seiner Tänzer nun vorenthält, ist für Tänzer und langjährige Ballettmeister sehr bedauerlich. Denn ohne diese Menschen wäre auch John Neumeier nicht das, was er heute ist.
Lieber HansMeier555, warum...
Lieber HansMeier555, warum sagen Sie Regisseuse? Das Wort gibt es nicht. Es heißt Regisseurin. Bitte
Liebe Frau Hüster,
danke für...
Liebe Frau Hüster,
danke für die Klarstellung. Dann hat die Regisseuse also von sich aus aufgegeben. Schade — ich könnte mir auch einen Tanzfilm auch ohne sprechende Köpfe vorstellen.
@HansMeier555 Wie wollen Sie...
@HansMeier555 Wie wollen Sie einen Film fertigstellen, wenn Ihnen noch O-Töne fehlen? Dann sollte derjenige, den Sie porträtieren, noch die Bereitschaft empfinden und Sinn darin sehen, in Ihr Mikrophon zu sprechen. Es geht um einen Dialog, um Kommunikation unter Freiwilligen, Interessierten. Das ist ein voraussetzungsreiches Unterfangen (siehe oben)
@Wiebke Hüster
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Er hat es...
@Wiebke Hüster
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Er hat es nicht verboten, nur unterbunden.
Sie wurde nicht davongejagt, sondern ist “mit ihrem Projekt gescheitert”.
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Das Gefallen an solchen Euphemismen würde schon ins Klischee passen.
@HansMeier555 Sich quälen und...
@HansMeier555 Sich quälen und den Meister anlächeln, haben Sie das aus “Shades of Grey”? Oder “Black Swan”…. kommen Sie, hier müssen doch nicht die ältesten Ballett-Klischees als Wiedergänger über die Blog-Szene huschen. Un peu de contenance.
Lieber HansMeier555,
nicht die...
Lieber HansMeier555,
nicht die Weiterarbeit verboten, aber da es sich bis jetzt nur um einen Rohschnitt handelt, bräuchte Frau Pohlmann natürlich die weitere Mitarbeit Herrn Neumeiers zur Fertigstellung. Und finanziell ginge es vielleicht auch gar nicht ohne die vorläufige Abtretung der Rechte der Beiteiligten. Das aber kann und will das Hamburg Ballett nicht.
Liebe Frau Hüster,
beim...
Liebe Frau Hüster,
beim nochmaligen Lesen ist mir aufgefallen, dass Sie uns im Artikel die Antwort schuldig geblieben sind: “warum es keine Kino-Fassung geben wird”.
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Ja, warum eigentlich nicht? Hat Neumeier dem Film einfach nur seinen persönlichen “Applaus verweigert”, oder hat er der Regisseuse die Weiterarbeit verboten? Das ist ja nicht dasselbe.
@HansMeier555 Ich weiß mich...
@HansMeier555 Ich weiß mich von Schadenfreude ganz frei. Im Gegenteil, ich habe in einer Kritik auf der Medienseite dieser Zeitung die Fernsehfassung explizit gelobt. Das hier ist ein sachlicher Versuch, zu klären, wie dieser Schaden für alle Beteiligten entstehen konnte. Meine Einstellung zum Hamburg Ballett habe ich in vielen Texten auseinandergesetzt. Meine wenigen persönlichen Kontakte mit Herrn Neumeier haben den Eindruck hinterlassen, dass es für Journalisten schwierig sein kann, mit ihm zu arbeiten, durchaus. Ich spreche gar kein Urteil aus. Ich sage nur, gegeben, dass Herr Neumeier ist, wie er ist, mußte man wissen, dass dieses Filmprojekt gewisse Schwierigkeiten barg. Und andererseits muß ich Herrn Neumeier in beiden Hinsichten – der finanziellen wie der künstlerischen – einfach zustimmen. Vor allem sehe ich den Vorgang als ein riesiges Kommunikationsproblem.
Das soll wohl heißen, die...
Das soll wohl heißen, die Regisseurin ist selber schuld, wenn sie der Rache des Tanzfürsten anheimfällt, dessen Eitelkeit sie eben frühzeitig hätte schmeicheln müssen.
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Offenbart sich in der Süffisanz, (um nicht zu sagen, die kaum verhohlene Schadenfreude) mit der dieses Urteil hier ausgesprochen wird, ein Selbstverständnis: Wir sind ein feudaler Hofstaat, tanzen nach dem Willen eines absoluten Fürsten, von dessen Gnade wir vollständig abhängen. So ist das bei uns nun einmal.
Und eine Regisseuse, die zu blind oder zu stolz ist, das zu bemerken und diesen Regeln zu entsprechen, ist eben selber schuld, wenn ihre ganze Arbeit hinterher umsonst war.
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Sich quälen und den Meister anlächeln, das müssen die Ballerinen ja auch.