Die Tänzer werden technisch immer überlegener. Das liegt an verbesserten Trainingsmethoden, intensiverer physiotherapeutischer Begleitung, ausgeklügelten Ernährungsplänen. Inzwischen tun Tänzer Dinge auf der Bühne, von denen man nicht weiß, ob man sie wirklich sehen möchte – übertriebene Extensions, Spagatsprünge mit über einhundertachtzig Grad Öffnung, etc. Tänzer lassen sich in Posen fotografieren, die sie wie Kunstturner oder Gymnasten strengster Kader aussehen lassen, aber nicht wie Künstler. Natürlich gibt es auch eine ganze Reihe von Stars, die Stil beweisen und ästhetisch hoch entwickelte Vorstellungen von dem haben, was ihre Rollen körperlich erfordern und was nicht.
Was es aber derzeit nicht gibt, sind jene besonderen Stars, die weit über die Ballettwelt hinaus bekannt sind, deren Namen nicht nur jeder kennt, der Zeitung liest, sondern die auch jeder, der Theaterkarten bezahlen kann, mindestens einmal gesehen haben will. Leute wie Rudolf Nurejew oder Mikhail Baryshnikov also.Noch war es mit Sergej Polunin nicht so weit, als der Zweiundzwanzigjährige im Januar diesen Jahres in die Schlagzeilen geriet. Mit neunzehn Jahren war er der jüngste Principal im Londoner Royal Ballet geworden und nun, an einem Tag, als er mit Alina Cojocaru den Pas de deux von Oberon und Titania aus Frederick Ashton’s „Mittsommernachtstraum“ proben sollte, schmiß er alles hin. Während sein Ballettmeister Anthony Dowell noch dachte, Polunin ginge nur ein paar Minuten vor die Tür, lief der junge Ukrainer zu Ballettdirektorin Monica Mason und kündigte fristlos, ohne lange Widerspruch anzuhören. Er sagte ihr, er sei mit drei Jahren ins Ballett geschickt worden und trainiere seitdem ununterbrochen, aber ohne echte innere Leidenschaft für den Tanz.
Alle waren ratlos. Sollte man das glauben?
Jetzt hat das britische Magazin „Intelligent Life“ eine Reporterin auf Polunin angesetzt, die ihm nach Kiew und Moskau gefolgt ist, mit ihm und seinem ganzen Umfeld Gespräche geführt hat und in der September / Oktober -Ausgabe – die Polunin auf dem Titel zeigt – berichtet, was des Rätsels Lösung ist. Hat Polunin seine atembraubende Karriere wirklich an den Nagel gehängt? Weggeworfen aus ennuie? Julie Kavanagh, die früher aus London für den „New Yorker“ schrieb, ist „Contributing Editor“ bei „Intelligent Life“, aber was ihr die Türen des Hauses Polunin geöffnet haben dürfte ist die Tatsache, dass sie die umfangreichste und interessanteste Nurejew-Biographie geschrieben hat. Kavanagh verfolgte Polunins Aufstieg außerdem, seit er dreizehn Jahre alt war. Jeder in der Schule, schreibt sie, konnte bereits damals im Ballettunterricht sehen, dass hier einer jener Ausnahmetänzer heranwuchs, die es nur alle zwanzig, dreißig Jahre gibt. Sie fühlte sich sofort an Filmaufnahmen aus Trainingsklassen mit dem jungen Baryshnikov erinnert.
Mit detektivischer Genauigkeit rekonstruiert sie den Tag seiner Kündigung, den 24. Januar 2012. Es sei ihm erst da bewußt geworden, wie sehr er darunter litt, dass sich zwei Tage zuvor seine Freundin, die Royal-Ballet-Solistin Helen Crawford von ihm getrennt hatte. Cojocaru war in der Probe ungehalten, weil es mit dem schwierigen Pas de deux nicht so vorwärts ging. Polunin kämpfte mit den Tränen und verließ das Studio.
Kavanagh berichtet von der körperlich harten Jugend des Jungen, der nach frühem Ballettunterricht ins Turnen geschickt wurde von einer Mutter, die von olympischen Medaillen für ihn träumte.
Zurück zum Ballett und in Kiew in Ausbildung, schickt die Mutter Videos und einen Lebenslauf nach London. Die Royal Ballet School nimmt den Dreizehnjährigen auf. Alles geht gut, bis er alt genug ist, in ein eigenes Apartment zu ziehen. Er gerät in schlechte Gesellschaft, steckt sein Geld in einen Tätowier-Laden, schläft zu wenig, weil die Parties so lang sind.
Morgens erscheint er nicht zum Training, in den Proben kommt er zu spät und liefert dann nur zwanzig Prozent seines Könnens ab. Alles wird ihm verziehen, weil er auf der Bühne so großartig ist. Mit einundzwanzig Jahren hat er alles erreicht. 2011 vertraut ihm Monica Mason sechs neue Hauptrollen an. Bloß fühlt sich Polunin nicht großartig. Das soll es gewesen sein, fragt er sich. Was soll er sich noch beweisen?
Er reist ab nach St. Petersburg. Das Marijnsky läßt ihn zappeln, er soll bis Juni warten, bevor erste Auftritte angesetzt werden können. Der Direktor des American Ballet Theatre, Kevin McKenzie, bietet ihm keinen festen Vertrag an, Polunins Ruf ist zu schlecht.
St. Petersburg langweilt ihn auch schon, mehr als London. Er will doch Geld verdienen, viel Geld, ganze Häuser will er kaufen für seine Familie und seine Freunde, erklärt er Julie Kavanagh.
Da trifft sich Igor Zelensky, der Chef des Moskauer Stanislawski-Theaters mit ihm in einer Bar.
Polunin akzeptiert. Zelensky, den Nurejew seinen kleinen Bruder nannte, scheint nun, so beobachtet es Kavanagh, zu einer Vaterfigur für Polunin zu werden. Polunin arbeitet wieder hart, und tanzt, so scheint es, besser denn je, ohne Drogen, nur für den Adrenalinstoß auf der Bühne, den er vermißt hat, und für das sehr gute Geld von Zelensky, natürlich.
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