Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Bewegung auf der Documenta 13

Das William-Kentridge-Puzzle der Documenta 13 Achthundertsechzigtausend zahlende Besucher, achttausendsechshundert an jedem der einhundert Tage, hatte die...

Bild zu: Bewegung auf der Documenta 13

Das William-Kentridge-Puzzle der Documenta 13

Achthundertsechzigtausend zahlende Besucher, achttausendsechshundert an jedem der einhundert Tage, hatte die heute zuendegegangene „Documenta 13″. Das sind vierzehn Prozent mehr als die letzte, so die Pressemitteilung. Mit dem Wort „zahlend” will man natürlich Eindruck machen, oho, soviel Kasse gemacht, aber lustig ist, dass man über das Wort zahlend anders stolpert und sich sofort fragt, wieviele nicht-zahlende Besucher die Kasseler Kunstausstellung dann wohl on top of it hatte. Vielleicht kriegt man die Zahl später noch, aber wird man sich dann freuen, wenn die Zahl hoch ist, weil noch mehr Besucher ein noch größerer Erfolg sind, oder wird man sich fragen, wieso sind da soviele umsonst reingekommen? Soviele, dass von ihren Eintrittsgeldern womöglich die Berliner Hallenbäder doch über diesen überwiegend lausigen Sommer hinweg hätten geöffnet bleiben können?

So ist das nämlich in der Hauptstadt, wie ein Freund, den ich am vergangenen kalten Mittwochmorgen in Kassel-Wilhelmshöhe überraschend auf dem Bahnhof traf, berichtete. In Berlin: Im Kalendersommer nur Freibadbaden möglich. Der Choreograph Joachim Schlömer hatte sehr lange einen Tänzer engagiert, der seine kurzen Hosen auch nach dem Kalender aus dem Schrank holte, lange Beinkleider wurden erst wieder im Oktober angelegt. In Kassel sollte ich mir ein Fahrrad mieten, hatte man mir geraten. Am Bahnhof waren alle gerade weg, und zwanzig Meter weiter fing es an zu schütten. Ich dachte, wenn ich Kurt Krömer wäre, dann würde ich jetzt die Balkontür öffnen und zum Rauchen hinaustreten ohne nass zu werden, denn Kurt Krömers aktuelle Balkontür ist ja eine Theaterkulisse, in der er trotzdem echte Zigaretten rauchen darf.

Carolyn Christov-Bakargiev hat sich von der DB noch genutzte Verladehallen an Gleisen neben dem Hauptbahnhof etwa so hindekoriert wie die Requisite diesen Raucherbalkon mit Asche-Eimer. Das sage nicht ich – ich fand, das sah täuschend echt aus – das sagte mit ironischem Lächeln eine wilde junge Frau, die Besucher offiziell führte und diesen erklärte, ja, das sehe alles hier nicht so reinweiß aus wie ein Museumsraum, gleichwohl dürfe man gewiß sein, dass die Documenta-Leiterin jeden Gegenstand und jede Schmuddelecke hinter irgendeiner der Rampen inspiziert und entschieden habe, was dort verbleiben dürfe und was nicht.

Das ist nachvollziehbar und trotzdem witzig. Doch verhält sie sich der Kunst gegenüber damit womöglich vorsichtiger und schonender als notwendig. Der Freund, der im Sommer draußen baden muß, sagt, muß die Kunst, wenn sie gut ist, nicht total unempfindlich gegen ihre Umgebung sein. Etwa wie sein MP 3-Player. Er habe diesen in seinem Rucksack vergessen und den Rucksack in die Waschmaschine gegeben und also den MP3-Player mitgewaschen und trotzdem funktioniere dieser auch seit der Wäsche ausgezeichnet und keiner der gespeicherten Titel sei dabei verlorengegangen. Allerdings sei ihm auch vor dem Schleudergang eingefallen, dass der MP 3-Player in der Wäsche sein müsse, und habe die Maschine angehalten und das Gerät entnommen. Nur der Akku habe sich komplett entladen dabei. Ich fand, der Freund solle an den Hersteller schreiben und darüber klagen, ein Niedrigtemperaturwaschgang führe bei seinen Akkus zur Entladung, und ob das mit rechten Dingen zuginge.

Die Analogie zur Kunst hört da auch schon auf. Es geht um etwas anderes, etwas, das mit dem Betrachter geschieht, nicht etwas, dass der zu rezipierenden Kunst widerfährt.

Die Grenzen, wie man auch auf dieser Documenta beobachten konnte, zwischen Installationen der Bildenden Kunst und Performances sind fließend. Es wird allgemein als aufregend empfunden, echte Menschen als konstitutive Teile von Kunstwerken präsentiert zu bekommen. Es gibt anders in sogenannten Tanzvorstellungen auch den umgekehrten Vorgang: Jemand macht auf der Bühne so wenig, dass man ihm recht eigentlich gerne das Museum empfehlen möchte. (Mu-se-um, muß ich mir merken, wie es bei Robert Gernhardt heißt)

Auf der Documenta fand ich es nicht nur sehr angenehm, umhergehen und Werke ganz entspannt schön, interessant, bedenkenswert, etc. finden zu dürfen, ohne dafür haftbar gemacht werden zu können. Der Freund, mit dem ich eigentlich verabredet war für die Documenta und mit dem ich dann dort umherlief den ganzen Tag lang, ist ein Galerist, und er ging streng mit Arbeiten zu Gericht und ordnete sie ein und relativierte sie, wie ich das in meiner Arbeit selbstverständlich auch tue und so schwieg ich und hörte seinen Ausführungen aufmerksam zu. Ein Vergnügen.

Bild zu: Bewegung auf der Documenta 13

Nicht nur das war faszinierend, sondern auch die Freiheit zu erleben, die der Ausstellungsort gegenüber dem Theater bietet, bei gleichbleibender Konzentration. Während die „Konzept-Werke” im Tanzbühnenraum den Zuschauer dazu zwingen sitzenzubleiben, obwohl er das Konzept längst begriffen hat und sich entsetzlich langweilt, ist das Umhergehen, wieder Hinsetzen, das Gehen und Bleiben freien Entscheidungen überlassen. Wie entspannend ist das denn!

Selbst Tino Sehgals „This Variation”, für das der studierte Choreograph zehn Stunden pro Tag seine Darsteller in einem zappendusteren Raum singen, sprechen, spielen, tanzen, improvisieren läßt zur Unterhaltung der Documenta-Besucher, löst nicht sofort Stress aus, obwohl es nicht besonders anregend ist. Vielleicht habe ich die falsche gefühlte halbe Stunde erwischt, aber dass im Dunkeln junge Leute um mich herumstehen, -sitzen – oder bewegen, die „Wow! Dschuding, dschuding!” – intonieren wie einst „Zap Mama”, na gut, geschenkt. Anschließend reden sie noch davon, dass es echt blöd ist für den Künstler, wenn er soviel Zeit, die er eigentlich mit Kunstmachen verbringen müßte, mit dem Schreiben von Geldbewilligungsanträgen verbringen muß und dass das seine Kunst nicht besser machen würde. Na bitte, da darf man einfach aufstehen und sich zwischen den vielen warmen Leibern im Dunkeln vorsichtig hindurchschlängeln und keiner merkts und niemand ist gekränkt und man hat durch sein Weggehen auch gar keine Meinung kundgetan. Tino Sehgal ist gar kein Choreograph und das ist kein Theater hier und ich bin auch gar nicht da.

Wie entspannend siehe oben.

Bild zu: Bewegung auf der Documenta 13

William Kentridges „The Refusal of Time” ist aufgebaut in einem alten wunderschönen Lagerhallenraum auf dem Bahngelände. Die Ziegelwände haben Mühe, den Kalk, der auf ihnen haftet, noch festzuhalten. Bis man hineingelangt, steht man hinter gefühlten achttausendfünfhundertachtundneunzig anderen Wartenden. Aber dann hört die Zeit wirklich auf, eine Rolle zu spielen, was nur eine der vielen möglichen Bedeutungen des Titels der Installation ist. Auf allen Wänden erscheinen Projektionen, die von einem einzigen an der Decke befestigten Beamer gesendet werden. Zu Beginn sind das raumhohe, riesengroße Metronome, die sich im wilden Dialog der Takte miteinander befinden wie bei einem harten rhetorischen Schlagabtausch. Als wäre man durch das berühmte Kaninchenloch gefallen einmal durch die Erde und nun muß man sich gegenüber Metronomen verantworten.

Aus den Metronomen und ihrer trocken knackenden polyrhythmischen Musik werden Bilder einer tanzenden Frau. Sie ist die aberwitzige Protagonistin eines Stummfilms. Sie verabschiedet am Frühstückstisch vor gezeichneten Wänden (wie in wunderschönen Illustrationen aus den fünfziger Jahren) ihren Mann zur Arbeit. Der Liebhaber kommt. Kuß. Der Mann, so hört die Frau, kommt zurück. Sie wirft eine Tischdecke über den Liebhaber. Das fliegt auf! William Kentridge selbst geht über Polsterstühle. In der anderen Richtung über alle Wände hinweg bläst eine Marching Band und wiegt sich dabei im Takt. Schwarze Papierschnipsel fliegen über die Wände und ordnen sich zu Bildern. Die untreue Tänzerin erscheint, als Collage aus Papier zusammengeklebt wie im schönsten Dada. Die Kunst und ihre Weise, die disparaten Bestandteile der Wirklichkeit neu zu ordnen, sodass sie vielleicht einen Sinn für uns ergeben, widersteht der Zeit. Unbedingt. Man denkt gar nicht mehr an den tatsächlichen Raum, in dem sie sich ereignet und dass man aus ihm hinausgehen könnte. Es könnte ein Kaninchenloch sein, wir würden bleiben.