Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Martin Schläpfer erhält den Preis der Düsseldorfer Volksbühne: Die Laudatio

An den Tanz gehören keine Fransen. Hans van Manen   Martin Schläpfer             Foto: Deutsche Oper am Rhein Zur...

An den Tanz gehören keine Fransen. Hans van Manen

 

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Martin Schläpfer             Foto: Deutsche Oper am Rhein

Zur Verleihung des Theaterpreises der Düsseldorfer Volksbühne an den Direktor des „Ballett am Rhein”, Martin Schläpfer, füllte sich die Deutsche Oper am Rhein am Donnerstagabend bis in die oberen Ränge – damit waren etwa zehn Prozent der zwölftausend Mitglieder der Zuschauerorganisation zur Vorstellung der neuen Spielzeit und Ehrung der Preisträger gekommen. Alle zwei Jahre entscheiden die Volksbühnen-Mitglieder per Abstimmung über die herausragenden darstellerischen und künstlerischen Leistungen im Bereich Bühne. Schläpfer erhielt den am gestrigen Abend durch den Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Kruse verliehenen 1. Preis, die östereichische Boulevard-Schauspielerin Johanna von Koczian den 2. Preis. Opernintendant Christoph Meyer und Operndirektor Stephen Harrison erläuterten den Spielplan der beginnenden Saison, baten neu engagierte und bekannte Sänger ihres Ensembles zu einzelnen Arien auf die Bühne.

Dies ist der Wortlaut der Laudatio, die ich gestern abend für Martin Schläpfer halten durfte.

 

Sehr geehrter Herr Intendant Professor Meyer, sehr geehrter Herr Prof Dr. Kruse, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Lieber Martin Schläpfer,

wir kennen uns schon lange. Sehr lange, wie mir bei der Vorbereitung auf diesen Abend sehr bewußt wurde. Ich war damals noch eine sehr neue, sehr deutsche Tanzkritikerin in der Schweiz und er ein überhaupt ziemlich neuer Choreograph. Ich war noch nicht sehr gestüm, wie es in „Pu der Bär” heißt. Und Martin Schläpfers Choreographien besaßen noch nicht dieses phantastische Ungestüm, das sie heute haben, so unbeirrt, so glanzvoll gebrochen, so energiesprühend.

Wenn Sie, werte Mitglieder der Düsseldorfer Volksbühne, Martin Schläpfers damalige Werke gesehen hätten, und wenn Sie, geschätzter Preisträger, sich noch erinnerten, was ich damals über diese Ihre frühen Choreographien schrieb – wir alle wären jetzt nicht hier.

Das war natürlich ein Scherz. Aber als ich diese Rede schrieb, dachte ich schon, oh, mein Gott, vielleicht habe ich damals, schließlich war ich so neu in meinem Metier, noch neuer als der Choreograph und Berner Ballettdirektor Martin Schläpfer – vielleicht habe ich Unmögliches geschrieben, Dinge, die man heute nicht ohne rot zu werden noch vorlesen könnte….aber nein – die folgenden Sätze würde ich jederzeit wieder schreiben:

„Warum eine Stadt einen Ballettdirektor gehen lässt” – damals stand der Wechsel Martin Schläpfers und seines Ensembles nach Mainz bevor – also , „warum eine Stadt einen Ballettdirektor gehen läßt, der durch seine kluge Repertoire-Politik und großen persönlichen Einsatz ein Ensemble so gefördert hat, dass es neben eigenen Produktionen auch van Manen und Balanchine ausdrucksstark tanzt, ist völlig unverständlich.  Dank seiner Arbeit stehen Werke von internationaler Bedeutung auf dem Spielplan des Berner Balletts.”

Das war 1998 und das war auch schon mein letztes Selbstzitat an diesem Abend.

Ich wollte Ihnen damit aber etwas Bestimmtes mitteilen.

Die Auszeichnung, die Martin Schläpfer heute Abend von Ihrer Seite zuteil wird, gilt dem Choreographen Schläpfer, sicherlich. Wir alle hier sind uns darin einig, in den Vorstellungen von „Neither”, der Morton-Feldman-Oper, in seinem „Forellenquintett” zu Schubert, oder seiner Fassung des Brahms-Requiem, Zeugen der Erschaffung von Meisterwerken gewesen zu sein. Ihre Ehrung bezieht sich auf die Jahre 2010 und 2011. Wie entspannend, dass sie sich nicht auf einen auch nur unwesentlich längeren Zeitraum beziehen, denn sonst müßten Sie heute abend mit mir noch eine ganze Reihe anderer Lieblingsstücke diskutieren – das Ligeti- Stück „Lontano” von 2009, die 3. Sinfonie von Lutoslawski, die Tanzsuite, das Lachenmann-Stück, die „Ramifications” von 2005, die frühen Choreographien zu Musik von Alfred Schnittke.

Das reicht für mehrere Preise. Der Choreograph Martin Schläpfer hat sich seit seinen Anfängen in Bern verändert, er hat seine Kunst entwickelt, in dem er choreographisch zu dem durchgedrungen ist, was er wirklich zeigen, sagen, ausdrücken möchte. Er ist frei geworden zu sich.

Der Ballettdirektor aber ist derselbe geblieben. Zwar stehen ihm hier und heute ganz andere Mittel zu Gebote als noch in Bern oder Mainz. Das ist wunderbar. Seine Compagnie ist größer denn je, seine Bühnen sind wunderschön, er kann fabelhafte Tänzerinnen und Tänzer an sich binden, denn die Stadt und ihr Theater sind zum Leben und Arbeiten sicher sehr angenehme Orte. Ausgezeichnete Orchester , Dirigenten und Solisten teilen seine musikalischen Interessen.

Schläpfers Lebensumstände als Ballettdirektor haben sich verändert. Seine Ästhetik hingegen ist dieselbe geblieben. Hans van Manens so lapidaren wie zutiefst wahren Satz „An den Tanz gehören keine Fransen” würde auch Martin Schläpfer unterschreiben, sans problème.

Darum sehen Sie hier getanzt durch seine Compagnie mehr und mehr der bedeutendsten Choreographien, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat.

Sie erleben, was der Aufbruch in die Abstraktion, die Moderne, im Tanz wirklich bedeuten kann. Sie sehen Tanz, der sich mit der zeitgenössischen Musik auf Augenhöhe auseinandersetzt. Sie begreifen, peu à peu, welche choreographischen Fragen George Balanchine interessierten, und lernen zu sehen, wie er sie – zu unserem intellektuellen, ästhetischen und sportlichen Vergnügen – beantwortet hat.

Wenn Sie so wollen, reicht über die Generationenkette Schläpfer, van Manen, Balanchine, Ihr tänzerisches Vorstellungsvermögen, Ihr Formenverständnis bis zurück ins neunzehnte Jahrhundert, als das Zentrum der Ballettkunst noch in St. Petersburg lag. Denn dort wuchs Balanchine noch auf bis zur Revolution und wurde abends als Eleve der Ballettschule des Zaren mit einer Kutsche ins Theater zur Vorstellung gefahren. – Martin Schläpfer fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Der Ballettdirektor Schläpfer besitzt viele Eigenschaften, die ich sehr mag. Er ist bedächtig, geduldig, beharrlich. Er ist von einem unglaublichen Arbeitsethos geprägt und sehr genau. Manchmal muss es ihm aber recht schnell gehen und ganz genau so wie er denkt. Er ist gerecht und hat einen hochentwickelten Begriff von Treue. Er ist großzügig, was die Erfolge anderer angeht. Er kann bewundern, was andere geschaffen haben. Was denken Sie, wie verbreitet das unter Künstlern ist?

Es verbindet ihn aber doch mit einigen seiner großen Vorgänger. Frederick Ashton, der britische Choreograph und sieben Jahre lang Direktor des Royal Ballet, pflegte regelmäßig in den Vorstellungen von Petipa’s „Dornröschen” in einer Loge von Covent Garden zu sitzen. Gefragt, was er da mache, antwortete er, er nehme Nachhilfestunden.

Das Bewußtsein, durch die Tradition der Tanzkunst mit anderen Jahrhunderten ununterbrochen verbunden zu sein, da die Ballette so lange von einem Tänzer zum nächsten übertragen wurden, ist ausgeprägt. Eine der letzten Ausgaben der amerikanischen Zeitschrift „Ballet Review” ging sogar der Frage nach der Anwesenheit von Geistern auf der Bühne während Tanzvorstellungen nach und kam zu dem allerdings scherzhaften Schluß, manche Ballerinen seien offensichtlich so schlecht, dass man die Geister ihrer weit besseren Rollenvorgängerinnen stets über ihnen schweben sehe.

Martin Schläpfers Ballett am Rhein weiß ich von solchem Spuk frei. Und Martin Schläpfer selbst hat das Glück, einen künstlerischen Meister zu kennen, der ihm höchst lebendiger Widerpart gesprächsweise ist. Mit Hans van Manen könne man stundenlang genauestens über choreographische Detailfragen reden. Immer. Nicht zuletzt aus diesem faszinierenden Austausch zweier Tanzmacher heraus hat sich das Ballett am Rhein zu Hans van Manens künstlerischem Zuhause in Deutschland entwickelt. Wahrscheinlich wird er einfach nirgends besser verstanden als hier.

An den Tanz gehören keine Fransen. Auch Martin Schläpfer näht keine dran. Aber seine Choreographien sind angefüllt zum Zerbersten mit allem, was Menschen mit sich herumtragen können, was sie innerlich schüttelt. Das bringt den Tanz in seinen Stücken mitunter zum Stocken, zum Erstarren, zum Einfrieren, zum Ziehen, Ziehen, Weiterziehen einer Spannung.

Manchmal ist es eine gute Ruhe, manchmal ein langsamer Vergiftungsprozeß. Manchmal fegen natürlich doch auch geisterhafte Erscheinungen durch den Tanz und man meint, eine Balanchine-Arabeske zu sehen, oder einen sexy van-Manen-Hüftschwung, Zitate, Referenzen, blitzartig aufgerufen, schon wieder entschwunden, verworfen.

Wie informiert und aufgeladen die Ballette Martin Schläpfers sind, begreift man umso besser, je genauer man die Musik kennt und je mehr Tanz man sieht. Es ist wie mit Klassikern anderer Genres. Man kann an ihnen unvoreingenommenes Vergnügen empfinden beim ersten Sehen, Hören, Lesen, aber je mehr man weiß, desto mehr andere Schichten, andere Qualitäten erschließen sich einem.

Edwin Denby, Tanzkritiker der New Yorker „Herald Tribune” in den vierziger Jahren, einer der klügsten Autoren, die je über Tanz schrieben, ging selbstverständlicherweise mehr als einmal in die Abende etwa des „New York City Ballet”. Die Rollendebüts junger Tänzer in älteren Balletten wollten wahrgenommen werden, Besetzungen mussten miteinander verglichen werden. Sehr viel häufiger waren die Tänzer die Neuheit und das Stück war dasselbe und doch ganz anders.

Aus vielen Gründen ist die Tanzkritik der Gegenwart dazu nicht mehr in der Lage. Aber wenn Sie in einer Gegend leben, die es Ihnen in gleich zwei Städten möglich macht, die Arbeit einer solchen Compagnie intensiv zu verfolgen, nutzen Sie dieses Privileg doch aus. Fühlen Sie sich privilegiert. Ich glaube Sie tun das. Ich glaube, auch darum verleihen Sie Martin Schläpfer Ihren Preis.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kommt ganz selten vor, dass ich mich in einem Theater ganz und gar einig weiß mit dem gesamten Publikum, mit dem Intendanten und mit allen Kollegen. Heute ist dieser Fall eingetreten: Einigkeit aller in der vorbehaltslosen Bejahung des Künstlers. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen, ich danke Martin Schläpfer für dieses Erlebnis.