Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Anne Teresa de Keersmaeker von ihr selbst erklärt

  In den Zettelkästen, Tagebüchern, Proben-Aufzeichnungen, Notationen, Skizzen, und Partituren eines Künstlers blättern zu können, zählt zu den...

 

In den Zettelkästen, Tagebüchern, Proben-Aufzeichnungen, Notationen, Skizzen, und Partituren eines Künstlers blättern zu können, zählt zu den aufregendsten Vorstellungen des Kunstpublikums. Würde sich nicht erst mit allen diesen Auskünften, mit der Kenntnis dieser dem Werk vorausgehenden und den Schaffensprozess begleitenden Träume, Gedanken, und Lektüren, wirklich erschließen, was man gesehen, gelesen, gehört, bewundert hatte?

Was ging den Tänzerinnen von Anne Teresa De Keersmaekers früher Choreographie „Elena’s Aria” durch den Kopf? Warum waren ihre Kleider so eng, ihre Schuhe so hoch?

Choreographen, wie man aus einer grauen Pappschachtel mit dem schlichten Aufdruck „ A Choreographer’s Score. Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók by Anne Teresa de Keersmaeker & Bojana Cvejic”, erfährt, Choreographen interessieren sich für die Lösung tänzerischer Schwierigkeiten oder auch, wie hier, materialtechnischer Schwierigkeiten. „Elena’s Aria” wird in Pumps getanzt und Kleidern, die wilde Bewegungen nicht gestatten. Frauen, kommentiert Anne Teresa De Keersmaeker, zeigen ihre Beine, Männer ihre Oberkörper. Das aber tun letztere erst in späteren Choreographien der berühmten belgischen Minimalistin. Denn in den frühen Stücken tanzen nur Frauen. Frauenbewegung! Natürlich ist Rosas im Beginn eine tänzerische Manifestation selbstbewußter weiblicher Kunst.

„Elena’s Arias” sei ein Tanz über das Nicht-Aufstehen-Wollen, sagt De Keersmaeker auf der DVD zum Stück: „Man hängt im Stuhl und hat keine Lust zu tanzen.”.

Vor den Lektionen auf den vier DVD’s der Edition hängt man im Stuhl und ist fasziniert davon, bei der Choroegraphin zur Schule zu gehen. Sie sitzt, mal in Pumps, mal in kräftigen Stiefeln, in Boyfriend-Jeans und einem Pullover, auf einem Stuhl vor einer Tafel und läßt sich aus dem Off Fragen stellen. Dann steht sie auf, nimmt ein Stück Kreide und entwirft Zeichnungen von strukturellen Ordnungen ihrer Stücke. In dem beiliegenden Katalogbuch finden sich Faksimiles früher Zeitungskritiken, von Programmheften, Fotografien, alles in Schwarzweiß. Natürlich, denn De Keersmaeker ist die Königin des Spröden, aber da sie nicht ohne Witz ist, verliert man auch in den Produktionen, in denen das Sprödeste des Spröden hervortritt nicht das Interesse an ihren Werken.

Im Programmzettel zu „Fase, Four Movements on the Music of Steve Reich” im März 1982 ist das Zitat eines New Yorker Zuschauers abgedruckt:

„Your dancing is like life itself. Always the same, always different. It goes on and on and on. Suddenly it stops….”

Tanz, findet aber Bojana Cvejic, ist keine Metapher. Sie glaubt an die reststandslose Auflösung des Falles „Kunst” mithilfe ihrer Täter. Das aber kann natürlich nur mit einer Kunst gelingen, deren Geheimnisse so vielschichtig nicht sind. Die Kunst der Anne Teresa De Keersmaeker ist es, geheimnislose Musik wie die von Steve Reich auf herrlich freie Weise zu vertanzen, was ein Gefühl von Ewigkeit und die Erfahrung von Schönheit auslösen kann. Die ehemalige Studentin von Maurice Béjarts Mudra-Schule glaubt nicht an Kostüme, die verwandeln, sondern an Kostüme, die eine bestimmte Seite an den Darstellern hervortreten lassen und ihnen gewisse Beschränkungen auferlegen. In dem sie sich selbst oder einen Begriff von Musikalität und Lebendigkeit verkörpern, der das permanente Zählen, Schritt für Schritt beinhaltet, stellen sie ja die Frage, wie natürlich es zugehen kann auf einer Bühne – oder im Leben.

Bild zu: Anne Teresa de Keersmaeker von ihr selbst erklärt

“A Choreographer’s Score: Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók. By Anne Teresa De Keersmaeker & Bojana Cvejic.” Schachtel mit einem Buch und vier DVD’s with Gesprächen in englischer Sprache, Untertitel in Niederländisch oder Französisch. Eine Mercatorfonds Publikation, außerhalb Belgiens und Luxemburgs im Vertrieb der Yale University Press, 49,95 Euro