Vor genau einhundert Jahren verließ ein russischer Junge eine der berühmtesten Ballettschulen der Welt und trat als Tänzer sein erstes Engagement an. Das Debüt des Siebzehnjährigen vollzog sich auf einer der bis heute legendärsten Ballettbühnen: Von Moskau und dem Bolschoi-Ballett lockte ihn erst der Impressario der Ballets Russes zwei Jahre später fort. Für Serge Diaghilew sollte Léonide Massine, wie dieser den als Leonid Fjodorowitsch Mjassin am 9. August 1896 in Moskau geborenen Tänzer seiner Exil-Compagnie mit Künstlernamen taufte, keinen Geringeren als Vaclav Nijinsky ersetzen. Nijinsky, bewunderter Tanz-Star und umstrittener Avantgarde-Choreograph, hatte den Zorn seines Arbeitgebers und Liebhabers Diaghilew auf sich gezogen, als er 1913 eine junge Tänzerin und Verehrerin namens Romola heiratete. Diaghilew schmiß ihn raus. Ganz unmögliche Entscheidung, aber gut für Massine.
Diaghilew reiste mit Massine in Europa umher, etwa nach Spanien, was den jungen ausnehmend begabten Choreographen zu Ideen anregte, die 1919 in „Le Tricorne” (Der Dreispitz) mündeten.
Neunzig Jahre später, in den ganzen Jubiläumsereignissen zu „Hundert Jahre Ballets Russes”, Ausstellungen, Rekonstruktionen und Revisionen des Initiationsprojekts der Moderne im Tanz, kam eigentlich Léonide Massine zu kurz.
Nun nimmt in dieser Spielzeit, einstudiert von Léonides Sohn Lorca Massine, das Bayerische Staatsballett das Brahms-Stück „Choreartium” zum ersten Mal in das Repertoire auf (Premiere 17. November 2012) und läßt das Werk glänzend erstehen in einer neuen Ausstattung von Keso Dekker, frisch nach Europa zurückgekehrt von seinen New Yorker Erfolgen als Kostümbildner für Alexej Ratmansky am American Ballet Theatre.
Es liegt ein paar Monate zurück, dass ich im Shop des Palais Garnier eine DVD erstand die das Label „VAI” (Video Artists International, Inc.) 2006 veröffentlicht hat: „Gaîté Parisienne” ist eine 1938 für das „Ballet Russe de Monte Carlo” entstanden, die Nachfolge-Organisation der Ballets Russes des 1929 verstorbenen Diaghliew.
Allein die Geschichte der Entstehung dieser Filmaufzeichnungen von Bühnenvorstellungen der Choreographie zu Walzern und Can-Cans von Jacques Offenbach ist faszinierend. Der in Dänemark geborene Ingenieur Victor Jessen, in dessen Kindheit die Wurzeln seiner Verehrung für den Tanz liegen, stahl sich mit einer geräuschgedämpften 16-Millimeter-Filmkamera, die er alle dreißig Sekunden neu ankurbeln mußte, zehn Jahre lang in Aufführungen von „Gaîté parisienne” und filmte sie. Anschließend schnitt er und synchronisierte seine Endfassung mit einer 1954 aufgenommenen Tonspur desWerkes. „Victor Jessen? Victor Jessen war für mich unsichtbar, ein Geist”, sagt der britische Tänzer Frederic Franklin im Bonus-Material der DVD, für das John Mueller 2004 ein äußerst erhellendes Interview mit Franklin führte. In diesem Gespräch erläutert Franklin auch Massines Zurückhaltung gegenüber der Compagnie.
Man kann das 37 Minunten andauernde „Gaîté” mit einer Kommentar-Tonspur von Franklin anschauen, das ist erst das wahre Vergnügen. Seine Partnerin Alexandra Danilova, so erfährt man daraus etwa, wurde von Frederick Ashton als Meisterin des Rockschürzens bezeichnet. Sie ist wunderbar zwischen den Cocadettes, den Kokotten, den Hauptdarstellerinnen in Nachtlokalen des neunzehnten Jahrhunderts, wie sie Massine in diesem Stück verewigen wollte. Was mit einem Tanz von Kellnern und Putzfrauen beginnt, die das Lokal für die beginnende Nacht vorbereiten, setzt sich fort als Geschichte nächtlicher Begegnungen. Erstaunen läßt Massines nicht ermüdende choreographische Originalität, die so stark genährt ist durch Charaktertanz. Heute würden wir das vielleicht als zeitgenössische Elemente der Choreographie bezeichnen. Das Feuer, die Energie, die aus diesen Tänzen leuchtet, hat die Zeit unbeschadet überstanden. „Gaîté Parisienne”, das in Monte Carlo uraufgeführt wurde, hat eine ununterbrochene Aufführungsgeschichte von 1938 bis 1960. Warum es vor allem auf den amerikanischen Tourneen der Ballets Russe de Monte Carlo so erfolgreich war, erklärt Frederic Franklin auch. Es sei nicht so „Highbrow” gewesen wie etwa das russische Ballett der Zeit, nicht so hochnäsig, nicht so unverständlich und elitär, soll das heißen. Nein, natürlich nicht, „Gaîté” spielte in einer Kneipe und nicht in einem Königreich vor unserer Zeit.
Wenn man Choreographien Léonide Massines sieht, fragt man sich, wo sie sind, die Charaktertänzer unserer Zeit, die das Ballett erneut aus dem Status einer elitären Kunst in eine als zeitgenössisch empfundene überführen.