Seit zehn Jahren touren Sidi Larbi Cherkaoui (*1976, Antwerpen) und seine Ko-Autoren und Tänzer Damien Jalet (* 1976 Brüssel, Luc Dunberry (* 1969, Valleyfield, Kanada) und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola (*1966 Legazpi, spanisches Baskenland) ihr Stück „D’avant” weltweit. Die berühmteste Band des zeitgenössischen Tanzes backstage in Berlin im Interview
Wenn Ihre Karriere noch einmal beginnen würde, was würden Sie anders machen?
Juan Kruz Diaz: Nichts! Luc und ich arbeiten noch immer bei „Sasha Waltz & Guests” und wir sind glücklich damit. Es ist wie eine Ehe: Man heiratet jemanden, weil man glaubt, er ist die richtige Wahl. Meine Entscheidung vor ein paar Jahren, nicht noch mehr eigene Stücke zu machen, hat damit zu tun, dass ich mich nicht auf den „Markt” werfen möchte. Ich weigere mich, diese Anforderungen zu erfüllen, die sich stellen, wenn man ein eigenes Ensemble gründet und seine Arbeit selber verkauft: Geld auftreiben, sich damit auseinandersetzen, was man gut verkaufen kann und was nicht, etc. Im Schutz von „Sasha Waltz & Guests” bin ich davon frei. Ich fühle mich privilegiert, denn ich kann in diesem Kontext so frei und kreativ arbeiten, wie ich möchte. Das ist alles, was ich brauche.
Luc Dunberry: Genau. Innerhalb der Strukturen der Company können wir vieles verwirklichen, auch wenn es jetzt schwerer geworden ist als früher. Um sich draußen auf dem Markt alleine zu behaupten, dazu fehlen mir Stamina und Ambitionen.
Reden wir über Strukturen. Was könnte besser sein an der Förderung, wie könnten wir mehr guten zeitgenössischen Tanz produzieren? Wieso hat Sasha Waltz nicht genug Geld?
Juan Kruz Diaz: Es herrschen falsche Vorstellungen darüber, wieviel Förderung wir als Compagnie beziehen. Das halbe Budget wird aus Einnahmen von Tourneen und dem Verkauf der Stücke bestritten. Der Etat ist zu gering, um daraus noch andere Choreographien als die von Sasha zu produzieren.
Dafür haben Sie eine künstlerische Heimat und leben – abgesehen von den Tourneen – an einem festen Ort, Berlin.
Damien Jalet: Ich könnte das nicht. Ich arbeite viel mit Larbi und seiner Compagnie Eastman, aber als Freelancer. Ich fühle mich unwohl, wenn ich fest an eine Institution oder einen Ort gebunden bin. Aber so war ich schon als Kind.
Sidi Larbi Cherkaoui: Im Flämischen haben wir dafür ein Wort, es heißt Bindingsangst. (alle lachen, es ist auch ein 2009 erschienener belgischer Comicband aus der Serie „Mac & Maggie)
Damien Jalet: Ja, von mir aus, nennt es eine Obsession, aber es war seit „D’avant” mein Ziel, nicht in der doch relativ kleinen Welt des zeitgenössischen Tanzes und ihren Strukturen zu verharren, sondern mich in Kollaborationen mit den anderen Künsten hineinzubegeben. Ich möchte Brücken bauen vom Tanz hin zum Schauspiel, zur Musik, zur bildenden Kunst. Das macht es schwer, meine Arbeit einzuordnen und zu promoten. Eben habe ich mit Jim Hodges in der New Yorker Gladstone Gallery gearbeitet, dann bin ich schon wieder in Rejkjavik bei der Islandic Dance Company. Meine Nationalität ist belgisch-französisch – so, wo gehöre ich hin?
Sidi Larbi Cherkaoui: Ja, wenn ich arbeite, bekomme ich flämische Subventionen, aber er stammt aus Brüssel, das gibt gleich wieder Probleme…Wir machen hier keine Witze über Nationalismus! Als wir gemeinsam „Babel” choreographierten, das im einzigen Staatstheater Belgiens herauskam, der flämisch-wallonischen Oper „La Monnaie / De Munt” in Brüssel, da war das auch eine politische Angelegenheit.
Damien Jalet: Ich könnte nur Geld von der französischen Seite bekommen
Sidi Larbi Cherkaoui: Ja, und die vergibt ihre Gelder nicht so gerecht wie die flämische, um ehrlich zu sein. Bei uns herrscht mehr Großzügigkeit, mehr Sinn für die Förderung der Künste.
Damien Jalet: Mich macht das auch irgendwie unabhängig. Für mein Stück „Three Spells” habe ich mein Geld von sonstwoher zusammenbekommen – unter anderem vom „Tokyo Arts Festival”. Ich bekomme viele Einladungen in anderen Zusammenhängen zu arbeiten, wie jetzt zum Beispiel im Louvre.
Sidi Larbi Cherkaoui: „D’avant” haben wir ja gemacht, als wir noch Teil von Alain Platels Kollektiv „Les Ballets C de la B” waren. Inzwischen habe ich gelernt, umzuschalten in den betriebswirtschaftlichen Modus. Vom Standpunkt des Künstlers ist es natürlich schrecklich, ein Projekt als Produkt zu betrachten, aber es ist sinnvoll, das zu tun. Ich würde niemals einem Publikum Seherwartungen unterstellen, die meinen künstlerischen Zielen zuwiderlaufen. Ich denke niemals, Zuschauer sind Idioten. Ich bin doch selbst oft Zuschauer, ich gehe doch und sehe mir Sachen an im Theater. Aber das ist vielleicht in der Vergangenheit begründet. Ich habe schließlich als Gogo-Tänzer angefangen.
Juan Kruz Diaz: Echt? Wirklich Gogo?
Sidi Larbi Cherkaoui: Ja! Das war das unerbittlichste Publikum, das ich je hatte. Die saßen da und wollten Mädchen sehen, und ich versuchte, sie in mein Bewegungs-Universum zu entführen. Und wenn ich das schaffte, das fühlte sich wirklich toll an. Alles was ich später machte in meinen Stücken – wenn da geredet wird etwa – das hat mit der Erfahrung zu tun, dass es gelingen muß, eine Verbindung mit dem Publikum herzustellen.
Das ist schwer, wenn Sie heute in Buenos Aires spielen und morgen in Tokyo. Haben Sie eine besondere Beziehung zu Ihrem Antwerpener Publikum, wo Ihre Compagnie zuhause ist?
Sidi Larbi Cherkaoui: Ich versuche das aufzubauen, aber ich bin noch sehr jung. Die Künstler, die bei uns wirklich berühmt sind, Anne Teresa de Keersmaeker und Alain Platel etwa, arbeiten seit den achtziger Jahren im Tanz. Sie bekommen dreimal so hohe Subventionen wie ich, obwohl ich etwa sieben Mal so viel produziere wie sie. Ok, aber darum geht es nicht, ich gönne es ihnen. Aber eine Konkurrenz herrscht natürlich um die Höhe der Zuwendungen. Die beiden konkurrieren um Gelder mit dem Royal Ballet of Flanders, das fünf Millionen bekommt, soviel wie die ganze zeitgenössische Tanzszene in Flandern.
Damien Jalet: Dabei repräsentiert der zeitgenössische Tanz seine Heimatländer sehr oft weltweit. Israel etwa schickt die Batsheva Dance Company als ihr kulturelles Aushängeschild überall hin. In Belgien haben wir auch viele berühmte Tanzcompagnien. Und trotzdem kriegen Schauspiel und Oper und zwar nicht nur absolut, sondern auch relativ betrachtet – mehr Geld als wir. Das Bewußtsein für unsere neuen Formen und dafür, was wir brauchen, um diese zu produzieren, entwickelt sich zu langsam weiter. Und wenn die es kapiert haben, brauchen wir vielleicht schon wieder ganz andere Möglichkeiten.
Sidi Larbi Cherkaoui: Ich mache mir wirklich Sorgen darüber, dass sie mir wahrscheinlich in zehn Jahren einen Haufen Geld geben, wer weiß, ob ich das dann noch brauche oder verdiene, aber jetzt, jetzt bräuchten meine Tänzer und ich es wirklich. Ich hoffe natürlich, dass ich nicht so werde wie manche Leute hier in Belgien, erschießt mich, wenn ich so werde, sage ich immer. Die Leute, die ich bewundere, arbeiten ganz woanders, außerhalb Belgiens. Dominique Mercy zum Beispiel vom Tanztheater Wuppertal. Er tanzt, er leitet die Compagnie, er ist weit in den Fünfzigern, so ein guter Mann – ich schaue wirklich zu ihm auf, ich bewundere ihn.
Man kann schon alt werden im zeitgenössischen Tanz und unverminderte ästhetische Kompetenz ausstrahlen – siehe Merce Cunningham, Trisha Brown oder Steve Paxton
Damien Jalet: – Oder die wundervolle Anna Halprin!
Kommen wir noch mal zurück auf Ihre Jugend. Als Sie „D’avant” machten, gab es keine Tänzerinnen, die Sie interessiert hätten? Wollten Sie als Männer unter sich bleiben? Oder haben Sie darüber gar nicht nachgedacht?
Juan Kruz Diaz: Es fing damit an, dass wir uns kennenlernen wollten, wir vier, und etwas zusammen machen. Wir wollten gar kein Stück machen, sondern ein Experiment: Könnten wir eine Geschichte erzählen und zwar zu 50 Prozent mit Gesang und zu 50 Prozent mit Tanz? Wäre das möglich? Dann stellten wir fest, oja, das wird sogar ein Stück und erst später dachten wir darüber nach, dass wir gar keine Frauen darin hatten.
Sidi Larbi Cherkaoui: Damien und ich wollten die beiden einfach kennenlernen, nachdem wir sie in „Zweiland” von Sasha Waltz gesehen hatten – wir fanden sie auch musikalisch so phantastisch. Luc spielte darin Cello und beide sangen auch.
Damien Jalet: Ihr Humor, ihr tänzerisches Vokabular, das war beeindruckend.
Sidi Larbi Cherkaoui: Wir hatten nur sehr kurzfristige Verantwortlichkeiten damals – die Zukunft war ein riesiges Feld zu organisierender Möglichkeiten, so wie wir wollten.
Juan Kruz: Diaz Ich bin sowieso nur aus Zufall in der Tanzwelt gelandet. Ich hatte Musik in Spanien studiert und dann Alte Musik in Amsterdam und landete dort als Sänger auf der Bühne. Sasha sah mich, als ich mit DV8 in Berlin gastierte. Alles Zufall!
Damien Jalet: Ein Jahr lang haben wir ja nur gesungen zusammen. Die Musik kam zuerst.
Juan Kruz Diaz: Wir hatten auch so wenig Zeit. Wir probten in unseren Ferien.
Sidi Larbi Cherkaoui: Ich machte währenddessen mein Stück mit den behinderten Schauspielern und mein erstes Solo für Avignon – das ist Euch vielleicht damals gar nicht aufgefallen, aber so war es….
Na gut, Sie sangen also zusammen und Sie Juan, dachten wahrscheinlich, mein Gott, wann werden die jemals einen Ton halten können.
Juan Kruz Diaz: Nein! Die hatten viel mehr Skrupel als ich! Ich glaubte an ihre Begabungen.
Sidi Larbi Cherkaoui: Er war unser musikalischer Direktor und traf auch die Auswahl der Songs. Es kam sehr an auf das Zusammensingen, die Polyphonie, ein Gefühl für eine Musik zu entwickeln, die im 15. Jahrhundert populär gewesen war. Wenn Sie mich fragen, ob „D’avant” der Anfang von allem war, dann muß ich sagen, ja, es gab uns die Himmelsrichtung vor, mir und Damien, für unser nächstes Stück „Foi” (Glaube). Wir hörten weiter mittelalterliche Musik, weil wir spürten, dass dort noch so viel zu entdecken war. Juan hatte mir eine Welt eröffnet, ich hatte ja als Kind nie eine profunde musikalische Ausbildung erhalten.
Für mich ist es kein Wunder, dass Sie Tanz und mittelalterliche Gesänge zusammenbringen. Ist es nicht so, dass beide der Gegenwart fast gleich fremd sind, dass beide aber, Tanz und Alte Musik, kommt man einmal mit ihnen in Berührung, einen nicht mehr loslassen?
Damien Jalet: Im Tanz sind es eben Körper, und vielleicht kann man es nicht verstehen, aber es handelt von jedem von uns, man kann es nachempfinden. Die Musik ist sehr archaisch, sehr fremd, aber sie verbindet dich mit etwas, das nicht mehr Teil der Gegenwart ist, aber etwas in dir berührt. Wie wenn man ein sehr altes Gebäude betritt, es ist fremd, aber erzählt dir doch etwas.
Sidi Larbi Cherkaoui: Die größte Begeisterung kommt von Musikern. Sie kennen und verstehen die Texte und sehen das Geschehen auf der Bühne noch einmal mit ganz anderen Augen.
Juan Kruz Diaz: Natürlich gehen die meisten Zuschauer nicht anschließend hin und kaufen sich Alben mit Alter Musik. Aber für die Dauer der Aufführung sind sie fasziniert.
Jetzt verstehe ich. Sie wollten dem Publikum das Gefühl geben wie es ist, eine bis dahin vollkommen unbekannte Welt zu entdecken. So wie es für Sie, Juan, und Sie, Larbi, mit dem Tanz war, Sie kamen ja gar nicht von da…
Sidi Larbi Cherkaoui: Das ist eine hübsche Art, die Dinge zu betrachten. Aber was Ihre These betrifft, zeitgenössischer Tanz sei entweder etwas, in dem man total drin sei, oder eben draußen: Das hängt ganz davon ab, von welchen Erfahrungen Sie ausgehen. Als ich das erste Mal Pina Bauschs Arbeit sah, dachte ich, wow, das ist so wunderschön. Ich erinnere mich genau an das Gefühl: Das möchte ich auch machen! Und ich war neunzehn Jahre alt. Ich machte Stepptanz, Jazztanz, Gogo-Dancing, und plötzlich sah ich das und dachte, genau das will ich machen! Bis heute ist Pina Bausch jemand, zu dem ich aufblicke, sie hatte diese Großzügigkeit, sie hatte so vieles, die Hingabe ihrer Tänzer dreißig Jahre lang, und der Gedanke an sie hält mich in der Welt des zeitgenössischen Tanzes.
Damien Jalet: Viele sagen mir, dass sie diese Erfahrung in „D’avant” gemacht haben. Wenn Larbi das sagt über Pina, dann finde ich es bemerkenswert, dass sich diese Energie weiterhin überträgt. Es ist ein Kontinuum.