Drei Dutzend choreographische Versionen etwa von Igor Strawinskys 1913 uraufgeführter Musik „Le Sacre du printemps” werden 2013 weltweit kursieren. Hundert Jahre „Bilder aus dem heidnischen Russland”, das läßt sich so trefflich feiern. Besser könnte es gar nicht sein, ein Werk, das bei seiner Uraufführung für echten Tumult sorgte, für Vorstellungsunterbrechungen, Geschrei, Pfiffe, Toben, Einsatz von Ordungskräften, etcetera. Der Beginn der Moderne, genau, von diesem Nijinsky, der dann nur sechs Jahre später in der Umarmung einer den Geist erstickenden Krankheit versank, tragisch. Umso mythenumrankter das in Nijinskys Version weniger als ein Dutzend mal aufgeführte Werk, ach so rebellisch, unerhört, Wahnsinn.
Es wäre schön, wenn diese Second-Hand-Gewagtheiten aufhörten, also, wenn einfach niemand mehr Stücke aus den falschen Gründen inszenierte. Ja, kann man einwenden, Diaghilew, für dessen berühmte „Ballets Russes” Strawinsky, Nijinsky und der Ausstatter Nicolas Roehrich damals arbeiteten, hätte auch nicht schlecht von dem Skandal profitiert und ihn vielleicht sogar kalkuliert. Die Inszenierung jedenfalls hat davon nicht profitiert, denn sie verschwand, wie gesagt, nach wenigen Aufführungen in der Versenkung.
Niemand behauptet, es könne nicht noch neue, phantastische choreographische Versionen von „Le Sacre du printemps” geben, mögen sich alle berufenen Tanzschaffenden darauf stürzen. Warum aber fällt ihnen das ausgerechnet für das kommende Jahr ein? Haben sie sich so lange mühsam zurückgehalten, einen „Sacre” zu machen?
Ob man das Stück aktualisieren kann, ist die andere Frage. Es werden in vielen Teilen dieser Welt Frauen zu Opfern, Opfern irriger religiöser Vorstellungen, Opfern politischer Gewaltausübung oder familiärer Unterdrückung. Ich bezweifle, dass man das tanzen lassen kann 2013, ernsthaft. Anzunehmen, der Tanz sei eine in dieser Weise explizit politische Kunst, halte ich für einen ästhetischen Irrtum und die Annahme, dass Politik durch die richtige Kunst unterstützt werden sollte, auch für einen bedauernswerten historischen Fehler.
Aber etwas muß aufhören im Tanz, das sich nicht nur an diesem Wiederbelebungsversuch einer schönen tanzhistorischen Leiche beobachten läßt. Es kommt so auf gar nichts an bei vielen Choreographen. Sie sehen sich offenbar nicht in einem historischen Vergleich mit maßgeblichen Werken ihrer Kunst. Denn sonst könnten sie nicht „Dornröschen” inszenieren und ihre Hauptfigur als Lady Diana Spencer ausweisen, wie es in Kaiserslautern jetzt geschehen ist. Oder als Tanzwissenschaftlerin mit einem Tänzer-Choreographen auftreten, der dann, wie hilfreich, Bewegungen demonstriert. Warum kommt er sich nicht vor wie der inzwischen abgeschaffte Mohr, der die Süßigkeiten beschattet?
Neuester Trend im Tanz, stellt Wendy Perron ermutigend in ihrem Tanzblog fest, sind noch mehr Transgender-Produktionen, also Tanzstücke, in denen die geschlechtliche Identität der Darsteller nicht feststellbar oder veränderlich oder erkennbar umgewandelt ist, oder korrigieren Sie mich bitte, falls diese Definition nicht politisch korrekt ist. Was sie aber glaube ich, ist.
Sie alle gehören zu einer Welt, jene Leute, die dauernd alles als Erste überhaupt machen und die, die zu Jubiläen noch mal ganz wichtig eine neue Version des zu feiernden Kunstereignisses hinstellen. Ich versichere, dass zwar zu allen Zeiten Menschen wahrscheinlich von anderen Menschen fasziniert waren, die eine starke sinnliche Ausstrahlung besaßen, deren sexuelle Identität aber nicht eindeutig auszumachen war, dies aber nichtsdestoweniger künstlerisch stets besser einen interessanten Nebenaspekt bildete, nicht das Hauptgeschehen. Zwischen 1832 und 1850 waren es außerdem unzählige weibliche Tänzerinnen, mit denen männliche Hauptrollen besetzt wurden. Librettist und Tanzschriftsteller, Theoretiker Théophile Gautier, hielt sich auch nicht abseits sondern mischte sich unter die Objekte seiner Beobachtung.
Das mit den Skandalen ist irgendwie durch. Get over it everybody.