Wenn die Dinge gut laufen, besteht die Kunst darin, den Erfolg zu genießen, ohne zu verkrampfen oder alles etwas zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Laufen die Dinge nicht so gut, während man sich zugleich wenig oder gar keine Schuld daran nachweisen kann, hilft das gleiche Verhalten. Man sollte sich gleichbleiben, in der Intensität des Tuns, im konstanten Bemühen, dann kann man immer wenigstens darauf stolz sein. Interessanterweise trägt das Bewußtsein, in den Anstrengungen fortzufahren, auch dann zu mehr Wohlbefinden bei, wenn allein das Pflichtgefühl oder der Kontostand zur Arbeit treiben.
Was die Arbeitsinhalte betrifft, gelten Felder als interessant, deren quantitativer Zuspruch groß ist: Das Internet, das Fernsehen, Blockbuster, Popmusik, Vampirserien. Was in diesen Medien funktioniert, kann unter günstigen Umständen in die Wirklichkeit zurückschwappen. Darren Aronofskys ziemlich alberner Horror-Thriller „Black Swan” führte weltweit zu einem Ansturm auf Karten für Ballettvorstellungen.
B.K.S. Iyengar, der berühmteste Yoga-Lehrer der Gegenwart, erzählt auf dem Bonus-Material von Jan Schmidt-Garres faszinierendem Dokumentar-Film „Der Atmende Gott. Reise zum Ursprung des modernen Yoga” zum Erfolg diese Geschichte. Als er 1935 begonnen habe, Yoga zu unterrichten, seien in ganz Indien gerade mal eine Handvoll Yogalehrer tätig gewesen. Wie etwas so Altes und so Gutes so weitgehend in Vergessenheit habe geraten können, sei ihm bis heute unbegreiflich. Er sei dann der Erste gewesen, der weltweit öffentliche Vorführungen seiner Yoga-Praxis gezeigt habe. Sicher, das sei erfolgreich gewesen und habe dem Yoga geholfen. Aber inzwischen sehe er das als bloßen Exhibitionismus an.
Hätte die Ballettwelt sich „Black Swan” ausgedacht, müßte man ihr ebenfalls Exhibitionismus vorwerfen. Es gibt auch ein paar mehr erfolgreiche Ballettcompagnien als Finger an einer Hand.
Schmidt-Garres Film, der jetzt auf DVD erhältlich ist (www.deratmendegott.de), hatte im Kino siebzigtausend Zuschauer. Was heißt das für Iyengars Vorstellung davon, was Yoga ist?
Etwa vierzigtausend Zuschauer sind in Frankreich in den letzten Wochen des Jahres 2012 („les fêtes de fin d’année”) zu drei Live-Übertragungen von Opernvorstellungen in die Kinos geströmt. Zu sehen gab es „Les contes d’Hoffmann”, „Carmen” und Rudolf Nurejews spektakuläre Version von „Don Quichotte”. Die Pariser Oper begreift ihre cineastischen Anstrengungen als Demokratisierung ihrer Kunst. Deutsche Kinos fehlen auf der langen Liste der weltweiten Ausstrahlungsorte. Deutsche Kinos haben Verträge mit dem Moskauer Bolschoi-Theater, das neben sich offenbar nur eine kleine Reihe zeitgenössischer Tanzvorstellungen aus dem künstlerisch nicht mehr weiter Aufsehen erregenden Nederlands Dans Theater in Den Haag duldet. Schade. Die vierzigtausend Zuschauer würden wir als Millionenvolk ja locker noch aufbringen.
Das ist aber nicht die einzige stolze Zahl in den französischen Bilanzen des Jahres 2012. Die Zahlen von Monsieur Nicolas Joel, directeur de l’Opéra national de Paris, sind so phantastisch, dass einem das Wort vom Erfolg, den man angeblich nicht in Zahlen messen soll, nicht mehr so leicht über die Lippen kommt. Das Rekordergebnis verzeichnet in 370 Vorstellungen in den beiden Häusern Palais Garnier und Opéra bastille eine Platzauslastung von 96 % Prozent. 856 851 Zuschauer sahen 199 Musiktheater-Aufführungen und 177 Ballettvorstellungen. Gespielt wurden 20 verschiedene Musiktheaterwerke, darunter acht Neuinszenierungen und eine Uraufführung. Sechs der zwanzig Produktionen erreichten eine Auslastung von 100 % Prozent: „Rigoletto”, „Don Giovanni”, „Carmen”, „La Veuve joyeuse”, „Capriccio” und „La Cenerentola”. Alles Opern mit Helden, die in Iyengars Augen Exhibitionisten, könnte man schließen.
Das Ballett, dem Musiktheater an Auftrittsmöglichkeiten und Zuschauerzahlen fast ebenbürtig, präsentierte vierzehn Produktionen, unter ihnen eine Uraufführung und zwei Gastpiele. Fünf der Programme erreichten einhundertprozentige Auslastung: Das Königlich Dänische Ballett, Pina Bauschs „Orpheus und Eurydike”, das Tokio Ballett, der George-Balanchine-Abend und „La Bayadère” – also interessanterweise nur ein klassisches Handlungsballett.
Insofern könnte man hier weder Exhibitionismus oder analog übertriebene Anpassung an vermeintliche Zuschauererwartungen diagnostizieren.
Woran liegt’s? Die Webseite der Oper hat den größten Zuspruch aller Opernhäuser weltweit nach der New Yorker Met. Mehr als sechs Millionen registrierte Besucher und mehr als drei Millionen Einzelaufrufer nutzten den Internetauftritt des Hauses, das entspricht einem Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr von 18,9 % Prozent. 47,8 % Prozent der Eintrittskarten werden inzwischen im Internet erstanden.
Diese Zahl ist sicher auch deshalb so hoch, weil die Pariser Oper soviele Nicht-Pariser unter ihren Zuschauern hat. Zugespitzt gesagt, könnte das Haus spielen, was es wollte, die Leute kämen doch – etwa, weil sie unbedingt einmal in ihrem japanischen oder amerikanischen oder deutschen Leben im Palais Garnier gesessen haben möchten? Ihre Neugier befriedigten immerhin 658 000 Tages-Besucher durch Hausführungen. Joel, der seine Zahlen so brillant nach oben treiben konnte, würde vielleicht kein anderes Programm machen, hätte er gleich hohe oder leicht sinkende Zahlen zu verzeichnen gehabt. Nehmen wir „Don Quichotte”, das Ballett, das im Januar auch auf Arte ausgestrahlt wurde: Der Stolz, im Besitz dieser temperamentvollen Fassung zu sein, der unnachahmlich elegante und wagemutige Stil der Performance dieser Tänzer, der atemberaubende ästhetische Geschmack der Pariser Ausstatter – keines dieser Elemente des Erfolgs wäre abgewertet, wenn weniger Zuschauer kämen. Aber man muß sagen, sie verdienen jeden einzelnen und keinem wird danach nur Chagalls Decke im Gedächtnis geblieben sein, auch wenn sie ursprünglich das stärkste Motiv gewesen sein sollte. Oder das neue Chanel-Kostüm, das ausgeführt werden mußte. Aber wenn sogar Yogis exhibitionistische Phasen haben können, wer wollte das dann dem Rest der Welt verdenken.