“Siebte Sinfonie” Foto: David Herrero, Tänzerinnen: Lenneke Vos und Maria Gutierrez
Der am 31. Dezember 1958 im hessischen Jugenheim geborene Uwe Scholz beginnt im Kindergartenalter mit Ballett und besteht mit vierzehn Jahren die Aufnahmeprüfung an der Ballettschule der Württembergischen Staatstheater Stuttgart. Im selben Jahr, 1973, stirbt John Cranko. Scholz wird Tänzer in Stuttgart, aber unter Crankos Nachfolgerin, die seine Muse gewesen war: Marcia Haydée. Mit sechsundzwanzig Jahren wird Uwe Scholz, der noch vor Abschluß der Ballettschule sein erstes eigenes Stück choreographiert, jüngster Ballettdirektor und Chefchoreograph am Zürcher Opernhaus. Siebzig Werke entstehen hier in der Schweiz und anschließend, von 1991 bis 2004, an der Oper Leipzig, wohin ihn Intendant Udo Zimmermann nach sechs Zürcher Jahren berufen hat. Uwe Scholz wird nur fünfundvierzig Jahre alt, und hat doch einundvierzig Jahre seines Lebens getanzt. Viele, die mit ihm gearbeitet haben, Tänzer, Ausstatter, Dirigenten, erinnern sich daran, wie enge Verbindungen zu Scholz entstehen konnten rein aus der gemeinsamen Versenkung in die Musik. Außer einem Fotoband über die Leipziger Jahre gab es bis jetzt keine Bücher über Uwe Scholz. Die Herausgeberinnen Nadja Kadel und Kati Burchart haben das zum Jahresauftakt geändert. Ihr eben erschienener großzügig gestalteter und zweisprachiger Bildband „Zeitsprünge. Leaps in Time. Uwe Scholz” ist im Eigenverlag erschienen (Copyright: Künstlermanagement Ballett/Tanz Nadja Kadel) und entfaltet auf mehr als zweihundert Seiten das künstlerische Porträt des Choreographen. Die thesenfreie und repetitive Einleitung von Gabriele Brandstetter einmal beiseitegelassen, ist es ein wirklich interessantes Buch geworden. Sechzehn Werke haben die Herausgeberinnen ausgewählt, um sie fotografisch zu dokumentieren und in kurzen Lexikon-Eintrags-ähnlichen Texten von Volkmar Draeger zu skizzieren – hilfreiche Beschreibungen, die einen oft überraschend lebendigen Eindruck von Werken wie „Der Feuervogel”, „Drittes Klavierkonzert” oder „Siebte Sinfonie” geben. Jedem Stück ist außerdem ein Interview mit einem seiner Protagonisten oder ein anderes Zeugnis eines bei der Entstehung Beteiligten beigestellt. Diese Gespräche, Texte, Briefe, Erinnerungen ergänzen einen bewußt werkbiographischen Ansatz mit Ideen davon, wie es gewesen sein muß, mit ihm zu arbeiten. Die Künstlerin rosalie etwa erwischte er, wie sie mit von Farbe blauen Händen, kurz aus dem Malersaal geeilt, in einer Telefonkabine des Stuttgarter Staatstheaters stand und versuchte zu wählen. Er habe gewartet, bis sie an jenem Tag mit der Arbeit fertig gewesen sei, und sie dann in ihr Atelier begleitet, wo sie sofort begonnen und die ganze Nacht hindurch über „Variation 1 – Francis Poulenc” verbracht hätten. Am Morgen habe sie angefangen, das Modell zu bauen und von da an hätten sie versucht, jeden Tag miteinander zu verbringen: „Eine sehr tiefgehende Freundschaft. Ein wunderbar-gemeinsamer künstlerischer Weg.”
Giovanni di Palma, Erster Solist bei Scholz in Leipzig, sagt anläßlich des für ihn kreierten Solos zur Klavierfassung von Igor Strawinskys „Frühlingsopfer”: „In vielen Teilen habe ich mich selbst wiedererkannt und ich glaube, dass es in gewisser Weise das Leben jedes Künstlers sein könnte. Das Wunderkind, hochbegabt, der kleine Junge im Ballett-Trikot. Unverstanden und einsam, aber auch ein Kämpfer. Ich kann das verstehen. Ich komme aus einem kleinen italienischen Dorf, meine Mutter war Friseurin, mein Vater hat in einer Fabrik gearbeitet. Da war es nicht sehr naheliegend, dass ich Tänzer werden wollte.”
Editha Majer, Scholz’ persönliche Referentin, Paul Chalmer, Stuttgarter Solist, Erster Solist der Ballets de Monte Carlo, sein Ballettmeister und späterer Nachfolger an der Oper Leipzig, Christine Bürkle, Birgit Keil, André Presser zeichnen in ihren teils sehr berührenden Äußerungen das Bild eines zarten, scheuen, arbeitsbesessenen, musikversunkenen Alleingängers, der kaum Schlaf brauchte und von seinem Umfeld denselben Hang zur völligen Verausgabung erwartete. Liebenswürdig und mit tänzerischem Witz begabt, schien er das vollständige Konzept seiner Choreographien stets zu den Proben im Kopf zu haben und nie Angst vor der Größe und dem Alleingenügen einer sinfonischen oder religiösen Musik zu empfinden. Auch die Tatsache, dass Strawinskys Werke, die er häufig verwendete, von einem und mitunter mehreren berühmten Vorgängern bereits umgesetzt worden waren, störte ihn nicht. Alle sagen, er war trotzdem bescheiden und zu seinen größten Begabungen gehörte es, die Tänzer sowohl ihren Talenten als auch ihren Persönlichkeiten und den Verbindungen unter einander entsprechend einzusetzen. André Presser, der für Serge Lifar, Léonide Massine und Balanchine dirigiert hatte, sagt bewundernd: „Er war – ähnlich wie Balanchine – sehr, sehr musikalisch. Er hätte auch Sänger oder Geiger werden können. Sehr musikalisch.”
Es ist ein wunderschöner Nebenaspekt dieses Buches – oder vielleicht ein deutlicher Beweis seiner Legitimität und Qualität – wieviel man darin über Tanz und alle, die für diese Kunst arbeiten, erfahren kann, nicht nur über Uwe Scholz.
Presser etwa erzählt herrlich über die Vorbehalte von Orchestern gegenüber Ballettmusik und wie er diese am Pult zu überwinden verstand. Gefragt, wie es sei, Haydns „Schöpfung” als Ballettmusik zu dirigieren, die es schließlich nicht ist, und ob das einen Unterschied bedeute, sagt er: „Nein, man kann nur sagen, es gibt gute und weniger gute Musik. Bei der Musik zu Bournonvilles „La Sylphide” von Lovenskiold zum Beispiel, da ist es einfach: Da sollte eigentlich die Gewerkschaft sagen, für einen richtigen Musiker ist es verboten, das zu spielen. Aber ich hatte immer einen anderen Standpunkt. Ich habe dem Orchester oft gesagt: „Wissen Sie, meine lieben Freunde, wenn ich nicht dirigiere, dann kommt jemand anderes. Weil es in jedem Fall aufgeführt werden muß. Und dann haben Sie sicherlich weniger Spass.”
Zu bestellen über www.nadjakadel.de zum Preis von 34,90 Euro
“Die Schöpfung” Foto: Jana Hallová, Tänzerin: Eriko Wakizono