Viele Menschen sprechen mich in diesen Tagen auf den schrecklichen Vorfall in Moskau an, wo der Ballettdirektor des Bolschoi-Theaters, Sergej Filin, vor zwei Wochen abends vor seinem Haus mit Säure schwer verletzt wurde. Würde, wollten gestern ein Kollege vom Fernsehen wissen, man diese furchtbare Tat und die Situation am Bolschoi vergleichen können mit der Pariser Oper, an der doch jetzt durch die unerwartete Entscheidung für Benjamin Millepied sicher auch dessen Konkurrenten verärgert wären. Ich habe mich gefragt, wie der Mann überhaupt auf diese Frage kam. Er hat das Thema eines Vergleichs auch nach kurzem Gespräch sofort fallengelassen.
In Moskau wird darüber diskutiert, ob es Zeichen einer etwaigen gesellschaftlichen Brutalisierung und Verrohung gibt. Manche meinen ja, andere betonen die außergewöhnliche Entsetzlichkeit des Überfalls auf Filin und halten ein solches Attentat für eine Ausnahme.
Man muß sicher sagen, dass es – selbst hier im friedlichen Deutschland – liest man allein das Fernsehprogramm – eine sagenhafte Faszination für Gewalt im Film gibt. Das Blut, das in einer durchschnittlichen Woche aus einem deutschen Fernseher läuft, kann keine Hausfrau so schnell aufwischen.
Von der Brutalität und Gestörtheit, die „Black Swan”, Benjamin Millepied’s Hollywood-Debüt und der Schauplatz des Beginn seiner Romanze mit Natalie Portman, der fiktiven Ballettwelt unterstellte, ging auch der Reiz des Films aus. Die Ballettwelt ist – anders als die Geschäftswelt oder die gut erforschte Mafia – unbekanntes Terrain. Die klischeehaften Ansichten, rosa Tutus und Blut in den Schuhen, werden häufig benutzt, als wären sie keine Stereotypen, sondern die bittere Wahrheit.
Trotzdem muß man sich fragen, wie ein rational denkender Bewohner einer westlichen Demokratie glauben kann, Pariser Tänzer würden eventuell ihrem vielleicht ungeliebten zukünftigen Chef die Reifen aufstechen oder ihn – unendlich viel schlimmer – körperlich versehren wollen?
Für mich ist die Tanzwelt mit einem strengen Verhaltenskodex assoziiert. Es gibt so viele Dinge, die man auf der Bühne und in den Kulissen, in den Garderoben und im Ballettsaal nicht denkt, nicht sagt und nicht tut, und man lernt sie von klein auf. Die Verhaltensregeln der Royal Ballet School in London sind in einem im Internet einsehbaren „Behaviour Code” niedergelegt und von jedem neu aufgenommenen Schüler zu unterzeichnen. Schüler, heißt es da, werden darin bestärkt, sich als Person zu entwickeln, Fortschritte zu machen, hart zu arbeiten, und für sich selbst zu denken, ihre Ansichten vernünftig und einfühlsam zu Gehör zu bringen, die Schulregeln zu akzeptieren und mit konstruktiver Kritik zu umzugehen, damit fertigzuwerden, wenn etwas schiefgeht, die Partnerschaft der Lehrer zu suchen in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Ideen, kreativ zu denken und zu arbeiten.
Sie können ausgeschlossen werden, wenn sie wiederholt beim Rauchen erwischt werden, mit Alkohol, beim Pöbeln, Betrügen oder Abschreiben, bei schlechtem oder provozierendem Benehmen. Diese Liste sei als illustrativ aufzufassen, nicht als erschöpfend.
Anderes Beispiel: Das erstaunte Gesicht eines Intendanten, der einer großen Tänzerin – wie er meint – ein Kompliment zollt, indem er ihr attestiert, sie sei bestimmt auch eine phantasische Schauspielerin und entgegnet bekommt, sie habe das versucht und das auch erfolgreich, aber in der Welt des Schauspiels ginge es ihr nicht sauber und aufgeräumt genug zu. Genau sagte sie „zu schmuddelig”.
Tänzer schrubben immer alles und nähen ihre Schuhe und waschen abends ihre Lieblingstrikots aus und kochen gesunde Sachen, genau. Sie halten sich an Regeln, die ihnen ihr anstrengendes Leben erleichtern und angenehm machen. Ich glaube, sie sind gerne so. Bei vielen von ihnen ist das ein Teil ihrer Ausstrahlung, ihrer Anmut und Präsenz, ihrer inneren Schönheit.
Manchmal allerdings, wenn das in Überlegenheitsgefühle umkippt, ist es ärgerlich. Das allerdings ist mir niemals mit Tänzern widerfahren, sondern nur mit der Tanzwelt lockerer assoziierten Personen.
Beispiel 1: Ein Kunde, der – vor der Berufung von Benjamin Millepied! – im Opernshop des Palais Garnier nach der DVD „Black Swan” fragte, wurde vom Verkaufspersonal voller Empörung des Geschäfts verwiesen. Nicht sehr höflich. Da müßte man drüberstehen. Dass Leuten allerdings irgendwann der Geduldsfaden reißt, wenn in der Pariser Oper dauernd nachgefragt wird, wann denn Natalie Portman wieder bei ihnen in „Schwanensee” auftrete, kann man vielleicht auch verstehen.
Beispiel 2: Der Mutter eines kleinen siebeneinhalbjährigen Mädchens, das Ballettunterricht nimmt seit fünf Jahren und sehr begierig nach eigenen Spitzenschuhen ist obwohl es weiß, dass es noch Jahre warten muß, sagt die berühmte Tanzprofessorin und große Ballerina: „Kauf doch dem Kind ein Paar, dann kann sie sie anschauen und befühlen – warum denn nicht? Sie sind doch so schön, in diesem rosa Satin…” Und strahlt, als würde sie sich des Augenblicks erinnern, als sie selbst ihr erstes eigenes Paar bekam…
Die Mutter ist erleichtert und will das gestern in einem Wiesbadener Fachgeschäft tun. Sagt die Verkäuferin spitz: „Nein, auf keinen Fall verkaufe ich Ihnen Spitzenschuhe. Es gibt einen Ehrenkodex unter den Ballettgeschäften, keine Spitzenschuhe an Kinder unter zwölf Jahren zu verkaufen. Das wäre ja, als würde man in China noch dazu beitragen, dass kleinen Mädchen die Füße eingeschnürt werde.” Ja, denkt die Mutter, Apollo, hilf, es handelt sich um Foltermethoden einer überlebten Tradition und außerdem, keine Abgabe von Alkohol an Minderjährige, genau, Spitzenschuhe machen ja auch süchtig, das leuchtet total ein. Statt das zu sagen erklärt sie freundlich den Grund und nennt sogar den Namen ihrer guten Fee (keine Reaktion) und leistet Eide, das Kind werde die Schuhe nur anschauen. „Sie darf auf keinen Fall hineinschlüpfen, auf keinen Fall!” sagt die Frau noch drohend und fügt hinzu, deswegen gäbe sie zwar die Schuhe her, nicht aber passende Schaumgummikappen oder Bänder.
Ehrpusseliges Wiesbaden. Draußen steht auf der anderen Seite der Kreuzung ein alter Schornsteigerfeger mit seiner Leiter. Die Rotphase der Fußgängerampel hindurch lächelt er breit herüber. Das Kind, darauf aufmerksam gemacht, dass das Berühren von Schornsteinfegern Glück bringt, sagt begeistert „Guten Tag” , als wäre es mitten in „Mary Poppins” gelandet, und schüttelt die Hand des Mannes. Doch dieser hält anschließend die Hand auf. Er ist gar kein Schornsteinfeger, sondern ein als Schornsteinfeger verkleideter Bettler. Man fühlt sich schlecht, wenn man sich bei Frage ertappt, aber dennoch: Schämen die sich nicht, ein Kind so zu enttäuschen? Sollte man nicht betteln, ohne jemand anders dabei zu betrügen? Hat der Einkommen beziehende Gebende das Recht so zu denken? Wohl kaum.
<p>Das...
Das stimmt.
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Aber das Ballerina-Double hatte einfach einen zu schlechten Agenten.
Der hätte bei Vertragsabschluß darauf besten müssen, dass sie im Vorspann, Nachspann und bei Interviews genannt wird.
Es spricht natürlich für sie, dass sie nicht wusste, dass man im Umgang mit diesem kommerziellen Showbiz von Anfang an einen Anwalt braucht.
Ja, nicht sehr charmant. Aber...
Ja, nicht sehr charmant. Aber wenn man sich vorstellt, Nicole Kidman würde in einem Spielfilm über Maria Callas die Callas spielen und dann behaupten, sie hätte alle Arien selbst gesungen, dann würde die Opernwelt vielleicht auch leise Zweifel anmelden oder unschöne Vergleiche ziehen….
<p>Erinnere mich dunkel an ein...
Erinnere mich dunkel an ein Interview, wo einer dieser Bolschoi-Russen Natalie Portman als “Ente” bezeichnet hat, “die ein Schwan sein will”.
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Nicht sehr galant.