Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Die neue Pinabibel ist da

Seit 1975 fotografiert Ursula Kaufmann Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal: Männer in Frauenkleidern, täuschend echte Nilpferde, einige der schönsten Frauen auf deutschen Tanzbühnen und immer wieder Pina Bausch bis zu ihrem Tod im Sommer 2009. Jetzt hat Kaufmann noch einmal 380 Aufnahmen zu einem brillanten Bildband zusammengestellt.

Unglaublich, wo überall sich dieses Tanztheater Wuppertal in der laufenden Spielzeit auf den Bühnen finden lässt: Es war seit Saisonbeginn schon in New York, Antwerpen, Nimes und Monaco, in Toulouse, und wie bereits vergangenen Sommer, in London, demnächst fliegt es nach Taipeh, Kaohsjung, Moskau, Göteborg, und Paris, nach Bari und nach Neapel. Besonders gefragt ist natürlich „Das Frühlingsopfer“, weil viele Pina Bauschs Choreographie zu Strawinskys Musik, deren tänzerische Uraufführung 2013 genau ein Jahrhundert zurückliegt, für die schlüssigste halten. Allerdings gastieren die Wuppertaler mit ihrem „Sacre“ am exakten Tag der Premiere, dem 29. Mai, ausgerechnet nicht am historischen Ort, dem Pariser Théâtre des Champs-Elysées, sondern in Schweden und erst ab dem 4. Juni dort, wo man Strawinsky noch immer aus dem Graben über Nijinskys Tänze mäkeln hören kann, nachts, wenn es still wird im Haus.

© Ursula Kaufmann“Das Frühlingsopfer” 2007.

Diese Programmation aber hat einen besonderen Grund. Am nämlichen Ort tanzt am nämlichen Tag das Mariinsky-Ballett die Urfassung Vaclav Nijinskys in der Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer sowie eine neue Sacre-Choreographie von Sasha Waltz.Ende 2013 können wir alle mitsingen und bedienen schon morgens unseren Toaster und die Kaffeemaschine nach den berüchtigt fußbrecherischen Rhythmen dieses wundervollen Komponisten, der der Welt noch so viele andere Musik zum Tanzen geschenkt hat. 2013 macht sozusagen einen durch Cage und Xenakis und Glenn Gould hindurchgegangenen Strawinsky aus ihm, pourquoi pas?

Es gibt viele Sacres, auch in Salzburg, und das Tanztheater Wuppertal ist nach wie vor ein ubiquitäres. Wer nicht nach Taipeh oder Moskau fahren kann, findet in Ursula Kaufmanns kostbar gestaltetem üppigen Bildband genug Stoff zum Erinnern und Nachdenken. „Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal“ ist ein prächtiger Coffeetable-Band von 320 Seiten und mehr als 380 atemberaubend gut gedruckten Fotografien, erschienen bei Edition Panorama zum Preis von 78 Euro, Format 30 x 40
cm. Unter den deutsch und englisch wiedergegebenen Texten ist jene faszinierende Dankesrede hervorzuheben, die Pina Bausch 2007 anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises gehalten hatte. Hier erzählt sie aus ihrer Kindheit als Gastwirtstochter in Solingen: „Auch die Gaststätte in unserem Hotel war für mich hochinteressant. Meine Eltern mussten sehr viel arbeiten und konnten sich nicht um mich kümmern. Abends, wenn ich eigentlich ins Bett gehen sollte, habe ich mich unter den Tischen versteckt und bin einfach geblieben. Ich fand das, was ich sah und hörte, sehr aufregend: Freundschaft, Liebe, Streit – alles mögliche eben, was man in solch einer Nachbarschaftskneipe erleben kann. Ich denke, dies hat meine Fantasie sehr angeregt. Ich war schon immer ein Zuschauer. Gesprächig war ich nicht. Ich war eher still.“

Sie liefert auch die Begründung, warum aus diesen Beobachtungsabenden keine Romane wurden, sondern Tänze. Und das ist so klassisch! Sie sei immer so wild in der Wirtschaft umhergetanzt und -geturnt, dass die dort verkehrenden Theaterleute nicht umhin konnten, ihr Talent zu bemerken und Pinas Eltern baten, das kleine Mädchen ins Kinderballett gehen zu lassen. Man lobte sie beim ersten Mal für ihre Gelenkigkeit, das ließ sie gerne wiederkommen. So wurden es Bewegungen und keine
Wörter.

Kaufmann ist eine der berühmtesten Bausch-Fotografinnen, ihre Bilder kann man stundenlang betrachten. Sie schreibt mir: „Die Edition Panorama war nach dem Erfolg der großformatigen Kalender mit mir einer Meinung diese “Pinabibel” herausgeben zu wollen. Im März 2012 habe ich angefangen mein umfangreiches Archiv gründlich zu sichten, um die für mich aussagefähigsten Fotos herauszusuchen. Natürlich habe ich dem Verlag wesentlich mehr Fotos vorgelegt, der dann die reduzierte Schlussauswahl getroffen hat. Für mich war es ein komprimiertes Wiedererleben und Auseinandersetzen mit den Stücken. Ich hatte wenig Zeit, deshalb war ich fast 4 Monate mehr oder weniger mit Pina Bausch beschäftigt. Es war anstrengend, aber auch sehr schön. Ganz genau kann ich keine Lieblingsstücke und Fotos ausmachen, da jedes Stück für sich etwas Besonderes ist. Trotzdem ist das „Frühlingsopfer“ für mich das beeindruckendste Stück, weil es auch meine erste Begegnung 1975 mit Pina Bausch war, die mich seit dem nicht wieder losgelassen hat. “1980” ist ein Stück, das ich mir immer wieder ansehen könnte, weil es komisch und traurig gleichzeitig ist und in der Hilflosigkeit Mut macht. Wunderbar finde ich die Stücke “Agua”, “Der Fensterputzer”, “Viktor”, und “Keuschheitslegende”.
Persönliche Begegnungen mit Pina Bausch hatte ich 1998 bei der Fotoauswahl zu meinem 1. Buch. ( „Nur Du – Ursula Kaufmann fotografiert Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal“, Anm.d.R.).
Ich hatte ein Dummy erstellt; Frau Bausch hatte es mehrere Wochen auf ihrem Regietisch in der Lichtburg liegen und hat immer wieder ‘reingeschaut, bevor ich kommen durfte und sie mit mir 2 1/2 Stunden jedes Foto durchging und mir erklärte, weshalb sie es gut findet oder eher nicht. Bei einem Foto, dass ich gerne ins Buch genommen hätte, war die Körperspannung perfekt, aber die Tänzerinnen sahen sich nicht an, deshalb wollte sie es nicht. 2005 hat mich Frau Bausch für eine Woche mit an die Opera National de Paris genommen, wo sie mit den Tänzern “Orphee et Eurydice” einstudierte. Ich hatte das Glück Frau Bausch bei den Proben in ihrer besonderen Art zu erleben. 2009 durfte ich die letzte Uraufführung …como….exklusiv bei den Proben fotografieren.

© Ursula Kaufmann Pina Bausch verbeugt sich mit ihrem Ensemble am 14. Juni 2009 nach
einer Aufführung von “…..como el musguito en la piedra, ay si, si, si…” (“…wie das Moos auf dem Stein…..”)

Vielleicht ist deshalb das Titelfoto des neuen Buches doch mein Lieblingsfoto, weil es soviel Interpretationsmöglichkeiten für mich bietet. Wie ich finde ist es sehr melancholisch; verheißt aber Hoffnung und Leben. Der Boden wird unter den Füßen weggerissen, der Baum wiederum verspricht Leben.“