Manchmal kann man hintereinander weg nachsitzen, was man verpaßt hat und worüber alle sprechen. Hoppla, ist das nicht ihr Job, wieso verpassen Kritiker überhaupt Premieren, von denen dann später und lange und länger alle anderen reden? Verzeihung. Das kommt natürlich nur, weil sich die Tanzpremieren unerklärlicherweise gerne knüllen an bestimmten Wochenenden. Im März herrscht Flaute, im April ballen sich die Ereignisse am zweiten Wochenende nach Ostern, im Mai könnte einer ständig auf den Zug springen und wieder woanders zu einer Tanzpremiere rennen, der Oktober und der November sind ganz schlimm, man kriegt schon eine Parkettklappsitzstauballergie, aber muß knapp vor Weihnachten noch mal schnell da und dahin.
So passiert das. Termine eingetragen, weiter Spielpläne geforstet und gleich den nächsten Schreck gekriegt, weil sich wieder nix ausgeht. „Ach, da können Sie nicht kommen?“ fragt die Pressestelle kühl und denkt, na wahrscheinlich muß sie ihre Kinder in den Waldorfkindergarten fahren und dann Bio-Würstchen grillen. Nein, das mache ich an den premierenfreien Tagen, wo sich nur Schulfeste und Kindergarten-Arbeitsdienste überschneiden und es Staus gibt, weil so viele Kleinstadtmütter Tortentupperdosen herumschaukeln.
Glaubt es oder nicht, aber es gibt Gruppen oder Choreographen, die auf diese Weise bereits mehrfach in aller Unschuld durch’s „Wollte-ich-schon-lange-mal-hin-und-hab-ich-noch-nie-geschafft“-Raster gefallen sind. Gintersdorfer/Klaßen zum Beispiel!
An diesem Osterwochenende hat das neu unter Leitung von Michael Börgerding stehende Theater Bremen Verdienste erworben ums Nachsitzen für Professionelle. „Theater Bremen tanzt! heißt das kleine Festival und von wem hat es gleich drei Stücke auf dem Spielplan, die ich noch nie gesehen habe? Gintersdorfer /Klaßen, genau. Ich bin es ganz gründlich angegangen und habe ihre Produktionen „Logobi 01“, „Logobi 04“ und „Logobi 05“ angeschaut. Bravo, Gintersdorfer/Klaßen, ich habe Ihre Stücke wirklich total zu unrecht verpaßt. Jetzt weiß ich, was der herrliche Titel bedeutet, es handelt sich dabei um einen „Danse de la rue“ von der Elfenbeinküste. Die Idee ist, Konzepte zeitgenössischen Tanzes dort und in Europa zu vergleichen. Dabei kommt man in Teufelsküche, denn wie soll der direkte Vergleich zwischen zwei Bewegungsphrasen analysiert werden, wenn nicht mithilfe sprachlicher Erläuterungen. Wo ist der Tanz entstanden, wer hat ihn gemacht, wer tanzt ihn wo und was bedeuten die einzelnen Bewegungen? Der ivorische Tänzer führt seine Großmutter vor, in die der Geist des Gorillas einfährt, woraufhin sie beginnt, ganz anders zu tanzen, gorilliger. Noch mehr lacht das Publikum, wenn Gotta Depris weißer Kollege, der Schauspieler (alle Achtung) Hauke Heumann sich in verschiedene Module von Tänzen einweisen läßt und staunt, wie sich Depris trommelnde Schritte und mitunter sexuell explizite Beckenbewegungen so anfühlen. Die postkolonialen Aspekte dieser Show sind weniger erheiternd. Depri berichtet von einem erotischen Tanz von Frauen, mit dem ganze Gruppen ivorischer Mädchen zu Vorführungen nach Paris eingeladen wurden, allerdings in kommerzielle Sex-Business-Revuen zur Anregung des Publikums. Dazu war der Tanz gar nicht gemacht. Depri kam nach Europa und ließ sich bei André Hellers Spektakel „Afrika, Afrika!“ anheuern. Eingestellt wurde nach dem Messen der Körpergrösse und dem Gang auf die Waage. Wer im Engagement zunahm, flog raus. Der Choreograph der Show erklärte den Tänzern, welche Abwandlungen des ursprünglich etwa ivorischen Schrittmaterials nötig seien, damit die Tänze europäischen Afrika-Klischees entsprachen. Marktforschungsergebnisse diktieren nicht nur das Ergebnis von Auditions sondern auch, wie herum gedreht wird. Wen eine natürliche Scheu davor bewahrt hatte, in„Afrika! Afrika!“ zu gehen, dem geben Gintersdorfer /Klaßen nachträgliche Argumente für diese Entscheidung. Seit 2005 haben mehr als 3,5 Millionen Menschen die Show in Europa gesehen. Jetzt steuert man den amerkanischen und russischen Markt an.
Aus der Pop-Welt ist der ivorische Tänzer Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star bekannt (siehe youtube). Er ist zweiundzwanzig Jahre alt und sehr virtuos. Er kann phantastisch schnell tanzen und gefährlich gucken und beherrscht gebieterische Gesten. Leider hat er den schlecht tanzenden und einigermaßen humorlos und langweilig daherkommenden Jochen Roller zur Seite. Weder dessen Übersetzungen noch seine Acts reissen einen vom Hocker und die Stimmung zwischen den beiden ist herzlich schlecht. Es gibt eine ganze Szene, in der Roller nicht versteht, was sein Kollege sagt und tanzt, es nicht übersetzen kann und davon richtig schlechte Laune kriegt.
Das mögliche Scheitern der Kommunikation zwischen zwei Tanzkontinenten einzubauen ist natürlich sehr honnett, aber hier wird man den Verdacht nicht los, dass es dem einen gleichgültig ist und der andere, den er auflaufen läßt, sich ganz weit weg wünscht. Die Tanzwelt, das kann man bei Gintersdorfer/Klaßen sehen, lebt von Exporten und Re-Importen. Und zweitens muß man konstatieren, dass ein wie auch immer künstlerisches Handeln einer Gruppe kontextbezogen funktioniert. Strassentänze, die jeder Bewohner der Elfenbeinküste versteht und beherrscht, müssen den europäischen Zuschauern erklärt werden, aber, das gilt auch umgekehrt, wie der Fall Jochen Roller zeigt. Das selbstbezügliche, tänzerisch phantasielose und sehr unkommunikative Auftreten des Vertreters des zeitgenössischen europäischen Tanzes in „Logobi 04“ muß niemand verstehen.
Wie gelungene Kollaborationen mit Franck Edmond Yao aussehen können, das demonstriert dieser mit Richard Siegal. 2010 bekam der Tänzer-Choreograph, der in William Forsythes „Ballett Frankfurt“ einer der charismatischsten Akteure war, den Faust Preis als bester Tänzer für „Logobi 05“. Er ist als erster der Weißen in der Lage, mit seiner Präsenz und seinen lässigen Tänzen und ironischen Geschichten genauso zu faszinieren wie der ivorische Virtuose. Wer weiß, womöglich lebt auf diese Weise das von den großen alten Leuten der New Yorker Judson Church in den sechziger Jahren entwickelte Konzept der „Contact Improvisation“ oder der Instant Composition eines Mark Tompkins demnächst an der Elfenbeinküste verwandelt weiter. In einer langen, auf Improvisation basierenden Passage bezeugen die beiden ein geradezu anrührendes wechselseitiges Vertrauen in die Kräfte und Körperintelligenz des Partners. Die Sympathie zwischen den beiden brillanten Entertainern zu erleben ist unglaublich schön. Ach, und weil ich das Nachsitzen so ernst genommen habe, wurde ich auch in ein total ausverkauftes “Mahagonny” hineingelassen, das in Bremen ein Hit ist. Da sind die Parkettreihen im Großen Haus ausgebaut wie zu einem Rockkonzert, die Chordamen singen dich an und die Statisterie tanzt mit dir. Man zieht dir ein Kostüm über, läßt dich im ganzen Haus neugierig umherwandern, bietet dir Mahagonny-Champus fast umsonst, und so mittendrin auf Wolldecken gebettet und von Videoleinwänden herunter in Echtzeit mit Details versorgt hat man einen herrlichen Abend. Was noch? Die Sänger und die Philharmonie unter GMD Markus Poschner klingen einfach wundervoll.