Wenn sich Schäden finanziell beziffern lassen, wird meistens gehandelt. In Großbritannien betragen die Kosten der Behandlung verletzter Tänzer pro Jahr 900 000 englische Pfund. Noch einmal eine Million Pfund Verlust summiert, wer die Kosten der Ausfälle der verletzten Tänzer veranschlagen will. Darum beteiligt sich dort jetzt der Nationale Gesundheitsdienst „National Health Service“ über die von ihm betriebene Institution des Königlichen Nationalen Orthopädischen Krankenhauses am „National Institute of Dance Medicine and Science“. Gemeinsam mit fünf weiteren Organisationen finanziert, beschäftigt das vor gut einem Jahr gegründete Institut Experten für Tanzmedizin, für Wissenschaft, Forschung, Bildung und Behandlung. Verletzte Tänzer können sich mit ihrer Versicherungskarte dort behandeln lassen. Boni Rietveld, ein holländischer orthopädischer Chirurg, der auf die Therapie von Tänzern und Musikern spezialisiert ist, ist Kuratoriumsmitglied der deutschen Gesellschaft für Tanzmedizin „tamed e.V.“: „Tanz ist Hochleistungssport“, sagt er, und weist darauf hin, dass Tänzer das Recht haben, entsprechend medizinisch versorgt zu werden.
Eine, die seit langem an der Prävention arbeitet, um Tänzern die für sie psychisch wie physisch extrem harten Auswirkungen von verletzungsbedingten Pausen von vornherein zu ersparen, ist die in Wien lebende und weltweit als Coach arbeitende ehemalige Ballerina Judith Reyn. Als John Crankos Stuttgarter Ballett zum ersten Mal an der New Yorker „Met“ gastierte, begeisterte sie das gegenüber europäischem Tanz skeptische verwöhnte amerikanische Publikum als „Tatjana“ in seinem legendären Puschkin-Ballett „Onegin“. Als der südafrikanische Jahrhundertchoreograph sie in die schwäbische Metropole engagierte, wo sie seine Hauptrollen tanzte als Kollegin und alternierende Ballerina von Birgit Keil, Marcia Haydée oder Susanne Hanke, lockte er sie vom Royal Ballet fort, an dessen Schule sie bereits ihre Tanzausbildung absolviert hatte. Was heute verwundert, war damals normal: Viele Tänzer aus aller Welt waren von John Crankos ungeheurer Begabung als Choreograph tief beeindruckt und verließen Städte wie London ohne mit der Wimper zu zucken, um mit ihm arbeiten zu können. So auch die bezaubernde Reyn.

Nach ihrer Zeit als Ballerina lud Michael Birkmeyer sie ein, an der Ballettschule der Wiener Staatsoper, deren Direktor er war, Klassischen Tanz zu unterrichten. Sie stellte nur eine Bedingung: Er müsse ihr einen klassischen Ballettmeister als Mentor und pädagogischen Lehrer an die Seite stellen. Diese Postion nahm in den siebziger Jahren bei ihr Marika Besobrasova ein. Damals nahm Reyn’s Begeisterung für Anatomie ihren Anfang. Besobrasova brachte ihr bei, die physikalischen Grundlagen des Tanzes zu durchschauen. Sie lernte, was Kinesiologie und Heilgymnastik für Tänzer bedeuten können und beschäftigte sich mit Pilates und Sportwissenschaft. Daraus entwickelte sie ein Programm für Meisterklassen und Workshops, in dem Anatomie für Tänzer so verständlich und umsetzbar dargelegt wird, dass es zu dem wichtigen Prozess des „Muscle Memory Change“ kommen kann. Führt ein Tänzer Bewegungen anatomisch schädlich aus, so hat er diese Bewegungsabläufe zumeist schon sehr lange im Körpergedächtnis abgespeichert. Reyn’ s Klassen helfen Tänzern dabei, die neue, richtige Bewegunsweise zu verstehen und zu erlernen, und dann durch Übung vollkommen zu verinnerlichen. Wie essentiell das ist, beweisen Zahlen einer anderen tanzmedizinischen Studie, derzufolge Ursachen der vorzeitigen Berufsaufgabe von Tänzern zu achtzig Prozent Probleme mit dem Knie, zu zehn Prozent mit dem Fuß und zu zehn Prozent mit dem Rücken sind.
Das Beste ist, sagt Reyn, wenn zuerst die Ballettmeister und Pädagogen der Ensembles oder Schulen mit ihr arbeiten und erfahren, wie sie Reyn’s anatomische Prinzipien selbst dauerhaft vermitteln können. Denn sie will ja langfristige Veränderungen zum Besten der Eleven und Tänzer bewirken. Es fängt immer damit an, dass man idiotische Korrekturen aus dem Ballettunterricht verbannt, Bemerkungen wie „Grow!“ (Wachse!), „Pull Up!“ (Ziehe hoch!) oder „Tuck in!“ (Zieh ein!“). Aus solchen idiosynkratischen Phrasen können Schüler oft gar nicht entnehmen, was sie tun und wie sich das richtig anfühlen soll. Also ziehen sie irgendwo hoch oder ein, was in der Regel zu Verkrampfungen und Blockaden führt. Um ein Knie vor Abnutzung und Beschädigung zu schützen, muß man aber genau wissen, welche um es herum verlaufenden Muskeln man anspannen muß, um nach einem Sprung sicher und gesund zu landen, zu strecken, zu drehen, etc.
Und noch eins ist deshalb wichtig an Ballettschulen, findet Judith Reyn. Die Anatomielehrer müßten unbedingt frühere Tänzer sein, um wirklich genau auf die Erfordernisse des professionellen Tanzes vorbereiten zu können. Reyn hat ihr Workshop-Programm über Jahre hinweg entwickelt und verbessert und sie hört nicht auf, neueste Erkenntnisse der Sportwissenschaft etwa in ihre Arbeit zu integrieren. Durch ihre weltweite Lehrtätigkeit in einigen der berühmtesten Theater und Ballettschulen weiß sie auch stets, auf welche Weise die Anforderungen an Tänzer steigen. Aber darüber, dass in manchen Abschlussklassen die Hälfte der jungen Tänzerinnen verletzt sind, noch bevor sie ihr erstes Engagement bekommen haben, ist sie entsetzt, und sie ist der festen Überzeugung, dass die meisten dieser Probleme vermeidbar und behebbar sind. Das ist ermutigend. An dieser Stelle möchte man wünschen, dass ein anderes, auf Körper bezogenes und dennoch nicht anatomisches Prinzip hier greifen möchte – das Schneeballprinzip zur Verbreitung der Lehren von Judith Reyn.
Judith Reyn im Internet: judithreyn.com