Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Was die Ballettwelt einem deutschen Bierbrauer in Milwaukee verdankt

Das Hamburg Ballett von John Neumeier feiert in dieser Spielzeit sein vierzigjähriges Bestehen. Ein Gespräch mit dem Choreographen.

 

Ein beliebtes Spiel heißt, mit wievielen Bekannten kommt man beim amerikanischen Präsidenten an? Die Ballettwelt fragt, wie schnell sind wir bei Marius Petipa (1818 – 1910) angelangt – und damit bei „Schwanensee“, „Dornröschen“ oder „Nußknacker“. Nun, über Diaghilews „Ballet Russe“ und seine Nachfahren, die nach seinem Tod gegründeten „Ballets russes de Monte-Carlo“, gelingt das in zwei Generationen. John Neumeier, der in dieser Spielzeit das vierzigjährige Jubiläum des Hamburg Ballett feiert, verehrt Diaghilews Wirken und die Epoche, in der Ballett in die Moderne aufbrach. Er hat mich durch seine Sammlung, deren Schwerpunkt auf dieser Epoche liegt, geführt. Hier ist unser Gespräch zwischen den Kunstgegenständen wiedergegeben.

 

JN: John Neumeier

AzT: Aufforderung zum Tanz

AzT: Die eine Längsseite Ihrer tanzhistorischen Bibliothek ist der Diaghilew-Ära gewidmet.

JN: Wir besitzen so ziemlich jedes Programmheft der „Ballets Russes“. Die graphischen Werke dieser Zeit bewahren wir hier auf (er öffnet einen Schubladenschrank und entnimmt ein Portfolio, das eine lächelnde Ballerina zeigt)

AzT: Wer ist das?

JN: Tamara Karsawina. Es ist leider noch nicht alles archiviert. Aber – schauen Sie, das ist interessant, das ist ein Album über Karsawina (…) die Originale der Zeichnungen, die Sie hier abgebildet sehen, hängen drüben in der Eingangshalle.

AzT: Arbeiten im Moment Wissenschaftler in Ihrer Sammlung?

JN: Constanze Müllers neues Buch „Michail Fokines Ballett Cleopatre“ ist zum Teil hier in der Stiftung recherchiert worden. Manchmal helfen uns Studenten, absolvieren ein Praktikum und erarbeiten wissenschaftliche Aufsätze bei uns. In diesem Fall hatte die junge Dame das auch getan und ich hatte ihr geholfen, ein Thema zu finden. Ich finde einfach die Frage, wie der Orientalismus des 19. Jahrhunderts im Ballett des zwanzigsten Jahrhunderts fortgesetzt wird, faszinierend. Dieser Frage widmet sich auch das Buch von Constanze Müller. Hier drüben beginnt dann die Nijinsky-Abteilung. Wir besitzen eine Menge früherer Foto-Postkarten und Original-Fotografien von Nijinsky.

AzT: Ich fand es interessant, dass Sie in der Arte-Dokumentation sagten, Gottseidank gäbe es keine Filmaufnahmen von ihm. Mir ging es fast mit den Fotos schon so. Die Gemälde und Plastiken, die ihn zeigen, enthüllen viel authentischer, was an ihm so außergewöhnlich gewesen sein muss.

JN: Was aber die Fotografien zeigen, ist seine enorme Fähigkeit zur Transformation. Von einem Foto zum anderen schauend könnte man mitunter meinen, es müsse sich um einen anderen Mann handeln. Schauen Sie, das hier ist die Einladung zu seiner Hochzeit. Hier ist das Menü des Hochzeitsbrunch – unterschrieben von vielen der Gäste, wie Tamara Karsawina..

AzT: Hat er hier selbst unterschrieben?

JN: Ja, das ist sein eigener Namenszug.

AzT: Der Anfang vom Unglück….

JN: Das könnte man so sagen. Das sind Briefe, und hier ist sein Testament, das er in Bordeaux am 25. März 1916 aufgesetzt hat, bevor er auf das Schiff „Espagne“ die Passage nach Amerika antrat. Da er mit seiner Frau Romola und dem gemeinsamen Kind reiste, werden hier seine Schwester und seine Mutter zu seinen Erben eingesetzt, die nicht mit an Bord waren. Das war während des Krieges. Und dies ist wahrscheinlich das letzte Foto, das von Nijinsky aufgenommen wurde. Er war im Fernsehstudio, das Royal Ballet zeichnete eines seiner Stücke auf. Sie sehen, wir haben sehr viel!

AzT: Es ist phantastisch.

JN: Hier befindet sich die Abteilung des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sehen viel Porzellan in diesen Vitrinen und die ganze Wand zeigt allein Marie Taglioni. Etwas getrennt davon – schließlich waren die beiden Rivalinnen – zeigt diese Wand Fanny Elßler – wir wollten uns keine Probleme einhandeln (…) Und hier sehen Sie die dänische Abteilung mit Lucille Grahn und August Bournonville.

AzT: Gerade ist diese wunderschöne Aufnahme von Bournonvilles „La Sylphide“ auf DVD erschienen mit Flemming Flindt als James.

JN: Wirklich? Ich habe das im Theater gesehen, mit Flemming Flindt! Das Königlich Dänische Ballett machte eine Tournee durch die Vereinigten Staaten. Daher rührte mit mein Entschluss, nach Kopenhagen zu gehen. Deswegen bin ich eigentlich nach Europa gekommen, weil ich mit Vera Volkova studieren wollte. Was ich dann nicht konnte, weil die Königlich-Dänische Ballettschule keine ausländischen Studenten aufnahm damals.

Was Sie an den Wänden sehen, ist eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Insgesamt haben wir etwa dreitausend Lithographien des romantischen Balletts gesammelt.

AzT: Sie hatten das Königlich Dänische Ballett wo gesehen?

JN: In Chicago. Ich wusste damals nicht so recht, wo ich mein Studium fortsetzen sollte. Und die Freundin eines Freundes, die beim New York City Ballet tanzte und damals zu Besuch nach Chicago kam, antwortete mir auf meine Frage, wer die beste Lehrerin für Männer sei – in der Welt – das sei Vera Volkova. Da sagte ich mir, ich müßte unbedingt mit ihr studieren.

Hier sehen Sie verschiedene Darstellungen von Diaghilew, eines der Porträts von Jean Cocteau, und hier ist etwas Interessantes, eine Zeichnung, die der Sänger Schaljapin von ihm angefertigt hat.

AzT: Die Ballets-Russes-Ausstellung im Londoner Victoria &Albert-Museum 2009 war wunderschön, fanden Sie nicht auch?

JN: Phantastisch, es war toll recherchiert und schön präsentiert, sehr aufregend.

AzT. Wer ist der Mann da oben?

JN: Oh, das ist Fokine. Ich sah das Bild in einer Auktion und sie wußten nicht, dass es Fokine war, aber es ist eindeutig. Diese Wand hier zeigt Bilder von Cocteau, Nijinsky-Porträts hauptsächlich, aber das Cocteau-Porträt stammt von Léon Bakst. Gehen wir die Treppe hinauf. Anna Pawlowa, da sie immer so eine besondere Person war, hat ihren eigenen Raum. Sie hält sich gern etwas abseits, wie Sie wissen. Wir haben sehr viele Aufnahmen von ihr, aber was Sie vielleicht interessant finden, sind diese Porzellan-Ballerinen hier, die aus Pawlowas Hand stammen sollen. Sie bildhauerte. Die Fotografien daneben zeigen sie in ihrem Atelier bei der Arbeit. Das Bild hier hat sie auch gemalt. Es soll von ihr an Gontscharowa übergeben worden sein, die es Galina Ulanowa gab, Ulanowa hat es einem Sammlerfreund in Köln überlassen und dessen Sammlung habe ich eines Tages gekauft.

AzT: Sie werden benachrichtigt, wenn irgendwo Dinge auftauchen, die diese Sammlung ergänzen könnten.

JN: Alles ist für mich wichtig als Inspirationsquelle. Ich bin ein verrückter Sammler. Das hat sich herumgesprochen, mittlerweile findet man mich.

AzT: Das ist ein Paradies.

JN: Steigen wir nach oben in die Räume, die unmittelbar mit Nijinsky zu tun haben. Hier sehen Sie „Le spectre de la rose“.

AzT: Eines von meinen absoluten Lieblingsballetten.

JN: Es ist ein Meisterwerk, ja, unbedingt.

AzT: Was taten Sie dann, als Sie erfuhren, dass Sie als ausländischer Student nicht von Volkova aufgenommen werden konnten?

JN: Ich ging nach London, zur Royal Ballet School. Schauen Sie sich diese abstrakten Zeichnungen aus Nijinskys Hand an. Das sind nicht die Zeichnungen eines Wahnsinnigen. Sie sind sehr systematisch erdacht worden, er hat auch Skizzen zu ihnen angefertigt. Das bedeutet, sie sind nicht spontan in einer Art Wahn entstanden. Diese Arbeiten zeugen von einem systematisch denkenden Künstler. Wie er mit der Mitte des Bildes arbeitet und das Zentrum dann hier immer mehr verschiebt ins Asymmetrische. Hier sehen Sie die älteste erhaltene Porzellanfigur Nijnskys, 1907 im Kostüm aus „Le Talisman“. Es ist ungewöhnlich, es ist ein deutsches Porzellan mit einer russischen Inschrift.

AzT: Vielleicht war es ein Geschenk?

JN: Könnte sein, ich weiß nur von zwei Exemplaren, das andere befindet sich in im Museum für Theater und Musik in St. Petersburg. Es ist so interessant – das Publikum hat ihn so gesehen, Maler und Bilderhauer der Zeit, in diesem exotischen Kostüm, und nicht einmal zehn Jahre später hat er diese abstrakten Zeichnungen geschaffen. Diese Distanz, diese Spannung zwischen wie man ihn gesehen hat – sehr Art-nouveau-haft –, und dem, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hat, fasziniert mich.

AzT: Herr Neumeier, was ist das hier für ein Stück Stoff?

JN: Das ist ein Blatt von Nijinskys Rosenkostüm

AzT: Oh nein!

JN: Es befand sich in der Sammlung von Serge Lifar. Er hatte wahrscheinlich mehrere, aber wir besitzen auch eines seiner Rosen-Kostüme für „Le Spectre“.

AzT: Wen aus dem Umfeld der Ballets Russes haben Sie persönlich kennengelernt?

JN: Alexandra Danilova. Sie ist gekommen, als ich die Idee hatte, „Pavillon d’Armide“ zu rekonstruieren, das war 1975, für die erste Nijinsky-Gala. Und wir sind dann sehr befreundet geblieben, bis zu ihrem Tod. Ich strebte, als ich meine „Schwanensee“-Fassung choreographierte, im zweiten Akt größtmögliche Authentizität an, zugleich sollte es dadurch etwas Persönliches bekommen, denn die erste Fassung, die ich jemals vom zweiten Akt Schwanensees gesehen hatte, war, als Kind, die der „Ballets Russes de Monte-Carlo“. Und ich habe sie gebeten, diese Fassung zu rekonstruieren. Auch Anton Dolin hat mehrmals Hamburg besucht. Er hat sein Solo aus „Le Train Bleu“ für Kevin Haigen für eine Nijinsky-Gala rekonsturiert. Wir sind dann auch noch Freunde geblieben.

AzT: Sie haben als Kind die „Ballets Russes de Monte-Carlo“ in „Schwanensee“ gesehen – wo war das?

JN: Noch in Milwaukee….

AzT: Achso, die Ballets russes kamen auf ihren riesigen Amerika-Tourneen auch nach Milwaukee, natürlich…Gab es ein Theater, in dem sie auftraten?

JN: Oh ja, es gab ein sehr schönes Theater, es steht heute noch, das Pabst-Theater, finanziert von einem Deutschen, nach dem es auch benannt wurde. Was es an Kultur in Milwaukee gab, war größtenteils durch Deutsche gestiftet, die ihr Geld mit Brauereien verdient hatten. „Pabst“ war ein ganz berühmtes amerikanisches Bier. Das Pabst-Theater ist ein Juwel, es ist wie ein kleines europäisches Theater, nur ist die Bühne etwas klein. Aber da habe ich meine ersten Ballette erlebt.

AzT: Ihre Eltern sagten: „Komm, John, wir gehen ins Ballett?

JN: Nein, nein! Ich sagte zu meinen Eltern, „Können wir nicht dahin gehen?“

AzT: Aber wie kam es zuerst, dass Sie sich dafür interessierten? Schon als Kind?

JN: Ich kann es Ihnen nicht sagen…

AzT: Sie sahen die Plakate und fühlten sich angesprochen?

JN: Ja. Ich habe amerikanische Musical-Filme gesehen und es hat mich einfach aufgeregt! Ich hasste es als kleines Kind, wenn sie zuviel gesprochen haben in Filmen, ich fand es furchtbar. Und dieser Eindruck, als ich mein erstes Ballett sah! Es war „Coppélia“ und wir saßen ganz weit oben und ich war so aufgeregt und der Vorhang öffnete sich, und mein Herz ging auf! Und ich dachte nur „Bitte lieber Gott, laß sie nicht sprechen!“. Ich wußte nicht, wie es in einem Ballett zugeht, denn ich hatte noch nie ein Ballett gesehen.

AzT: Wie alt waren Sie?

JN: Komischerweise führte ich bereits damals Tagebuch, und ich besitze diese Tagebücher noch. Ich muß acht Jahre alt gewesen sein. Schauen Sie, was ich gerade neu bekommen habe. Ich weiß noch nicht genau, was das ist. Ich habe es von einem Puppenhändler bekommen, es ist Nijinsky, klar, als Faun, aber anscheinend wurde es für Woolworth hergestellt. Woolworth war der „Five and Dime“, nichts kostete mehr als 75 Cent. Niemand kann sagen, aus welcher Zeit diese Nijinsky-Puppe genau stammt, sie sieht aus wie aus den fünfziger Jahren – man fragt sich, zu welchem Zweck und für wen würde Woolworth so etwas hergestellt haben? Dieser Billigsupermarkt?

AzT: War es wohl eine Serie? War er eine Art Ken für Barbie?

JN: Vielleicht, und man hat sie dann gesammelt womöglich.

AzT: Und dass sie den Oberkörper so gemacht haben, als sei der nackt und die Blätter des Kostüms direkt auf die Haut gemalt.

JN: Ja, das ist eigentlich ein sehr moderner Gedanke

AzT: Sie begehen die vierzigste Spielzeit des Hamburg Ballett. Nie Lust, Hamburg Hamburg sein zu lassen, allem hier den Rücken zu kehren und für das American Ballett Theatre oder die Pariser Oper zu kreieren?

 

JN: Ich tue das sowieso! Aber ich glaube, es gibt zwei verschiedene Typen von Choreografen. Die einen evolvieren, die anderen inszenieren Brüche. Ich bin für Evolution. Die Company, die ich hier seit 40 Jahren leite, ist immer auch unterwegs auf Tourneen gewesen. Sie hat mit der Company von vor vierzig Jahren personell nichts zu tun, aber es herrschen dieselben Prinzipien, was ich an einem Ballett schätze – ob es von mir oder jemand anderem ist. Es ist derselbe Fluß, mit immer frischem Wasser!