Where Are the New Serious Ballets?
„Künstlerisches Ansehen ist das höchste ökonomische Gut des Balletts. Um zu überleben, muß das Ballett mit den Klassikern konkurrieren – so wie das die seriöse zeitgenössische Malerei, Musik und Dichtung tun.“ Dieser Satz ist nicht von mir, sondern von meinem Lieblingsautor in Tanzfragen, Edwin Denby. Kein Zweifel, so schreibt er an früherer Stelle in diesem kleinen Essay, der am 7 Mai 1944 in der „New York Herald Tribune“ erschien, kein Zweifel, das allgemeine Publikum liebe leichte Stücke. Aber, so Denby weiter, es sei doch auffällig, „wie das tägliche Publikum hier in dieser Stadt” positiv reagiere “auf schwere Ballette, abstrakte oder klassische.“ Das konnte er wirklich beurteilen, wie die Publikumsreaktionen Tag für Tag in New York aussahen, denn er ging Tag für Tag ins Ballett, und mußte das auch, denn es gab nicht nur in George Balanchines „New York City Ballet“ (ab 1948 natürlich erst) sondern auch schon vorher dauernd Rollendebüts in Companies und als Publikum oder spezieller, Tanzkritiker-Schnittmenge desselben, machte man ständig Entdeckungen unter den neuen Besetzungen. (Wahnsinn, man hat ein Theater um die Ecke, in das man dauernd gehen muß, um nicht die irrsten jungen Tänzer zu verpassen. Darf ich gar nicht drüber nachdenken.)
Andererseits ist es natürlich sehr heilsam, diese Mahnung Denbys von vor siebzig Jahren zu lesen. Denn wenn man zurückblickt von einem künstlerisch zweifelhaft ergiebigen 2012/2013 und sich Denby vorstellt, wie er zwischen Premieren Merce Cunninghams, George Balanchines, des American Ballet Theatre und der Ballets de Monte-Carlo hin- und hereilt und denkt, o, was war das Tanzkritikerdasein und Publikumsleben im New York der vierziger Jahren doch für ein Zuckerschlecken, ein einziger Honigtopf, um mit Alan Alexander Milne’s beliebtestem Protagonisten zu sprechen, dann stellt dieser Artikel die notwendigen Korrekturen der Idealisierung ein. „Ballet Theatre“, so Denby, habe amerikanische Choreographen beschäftigt, so lange sie unterhaltsam zu sein versprächen. Und „Monte-Carlo“ habe versucht, ausländische Choreographen dazu zu bringen, süß zu sein.
Ok, sagt Denby, ich verstehe das. Aber beide unterschätzten seiner Ansicht nach die Intelligenz, das Empfindungsvermögen und die Neugier des Publikums.
Denby unterscheidet zwischen kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolgen und langfristigen. Kommerzielle Unterhaltungsunternehmen würden die kurzfristigen Erfolge benötigen, und schöben in jeder Saison neue Hits für einen Sommer nach. Aber künstlerische Unternehmen wie Ballettcompagnien, die auf die Finanzierung durch Stiftungen und durch die öffentliche Hand angewiesen seien, müßten bleibendes Kapital erwirtschaften – also Stücke, die das Publikum auch noch in einem Jahrhundert sehen wollen. Falls es an dieser Stelle noch niemanden aufgefallen ist, muß man hier an die deutsche Situation denken. Wieviele Compagnien haben wir, komplett mit öffentlichen Geldern finanziert, deren Intendanten bei der Wahl ihres Tanzchefs keinen Schimmer haben, ob von ihm oder ihr Werke zu erwarten sind, die mehr als zwei Saisons überdauern. Oder ob es nicht stattdessen besser wäre, auf ein gemischtes Repertoire abzuzielen mit einem Direktor, der sich in der Tanzgeschichte und -gegenwart perfekt auskennt und das Publikum durch eine intelligente und sensible Mischung aus Meisterwerken und Uraufführungen neugierig und wach hält?
Zwei Fehler konstatiert Denby, als lebte er im Deustchland des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Erstens den Fehler der Theater, im Tanz nicht bedingungslos auf „ernste neue Ballette“ zu setzen, also herabgeschraubte Erwartungen. Zweitens, zu glauben, dass Publikum sei dämlich oder anspruchslos oder süchtig nach billiger Zeittotschlagungs-Unterhaltung.
Darin mit Musical-Theatern oder anderen kommerziellen Entertainment-Unternehmen zu konkurrieren, könne sich der Tanz einfach nicht leisten. Als Hochkultur-Unternehmen muß man darauf achten, nachhaltige Investitionen zu tätigen, so könnte man Denby 2013 paraphrasieren.
Es gäbe aber noch ein viel simpleres Argument für guten Tanz, so Denby. Die Tänzer bräuchten gute Choreographen, um nicht in leichter Muse unterzugehen und ihre Lebendigkeit zu verlieren. Das ist ein Argument, das auch in den anderen Künsten zu wenig beachtet wird. Abstoßend und unlebendig ist die stereotype Behandlung der Wirklichkeit in trivialer Kunst. Das merkt das Publikum. Und ist auf Dauer verstimmt.