Manche Bücher liegen lange ungelesen herum, ohne es zu verdienen. Man bekommt sie zu Weihnachten geschenkt und hat sie im Juli noch nicht ernsthaft aufgeschlagen, sondern nur alle paar Wochen traurig gemustert und beschlossen, dass die Zeit einfach im Moment nicht reicht, um einem 450-seitigen Roman ernsthaft zu Leibe zu rücken. Im Juli ist dann Feststunde. Sorglos früh am Abend und mit einem großen Becher Tee zu Bett und lesen wie in der Kindheit, nämlich ohne jeden Gedanken an Sinn und Nutzen der Lektüre, und bis die Augen zufallen. Am nächsten Tag wieder so. Jetzt, am letzten Tag des Juli, ist Mordecai Richlers „Wie Barney es sieht“ ausgelesen. Ich bekam den 1997 im Original als „Barney’s Version“ erschienenen Roman, weil die deutsche Übersetzung von Anette Grube (2000 bei Hanser erschienen) im vergangenen Herbst bei Liebeskind neu aufgelegt und so wieder verfügbar wurde. Der Ich-Erzähler ist ein alter Mann, der als Fernsehproduzent reich geworden ist. Er lebt allein mit einigen Flaschen hochprozentiger Getränke, seit seine Frau ihn nach dreißig Jahren verlassen hat. Barney Panofsky weiß, warum sie das getan hat und träumt davon, Miriam würde ihre Entscheidung rückgängig machen. Was nicht geschieht. Lesend schaut man in Barney Panofskys Leben, von seinen frühen Jahren in Paris an, und folgt fasziniert den Schicksalen seiner Freunde, Feinde und Frauen. Ein Todesfall beendet das Leben der späten postmodernen Boheme. Eine zweite Heirat zurück in seiner frankokanadischen Heimat bildet den Stoff zu Richlers witzigstem Kapitel: Auf dem Hochzeitsfest verliebt sich Panofsky in seine eigentliche große Liebe und letzte Frau, und weeß schon an diesem Abend, dass die eben geschlossene zweite Ehe nichts als ein Riesenirrtum ist. Mit dem Geschnatter seiner Frau und ihrer gesamten überheblichen Sippschaft büßt Barney, bis die nächste Romanfigur verschwindet. Dieses Mal ist nicht sicher, ob der heroinsüchtige Schriftstellerfreund Boogie wirklich tot oder nur untergetaucht ist in einem Patricia-Highsmith-würdigen Verfahren, einem Ripley-Trick. Barney aber wird des Mordes angeklagt. Die sarkastisch grundierte überschäumende Erzähl- und Anspielungswut aber verliert nicht an Elan: Die Separatisten, die jüdische Bourgeoisie, feministische Literaturwissenschaftlerinnen, Fernseh-Schauspielerinnen oder der Kunstmarkt werden in dichter Folge und manche mehrmals durch den Kakao gezogen. Richlers Humor ist schwarz, sehr schwarz, und seine absurdesten Einfälle hängen mit dem Tod zusammen. Panofskys Frau kehrt nicht zu ihm zurück. Das bleibt lange im Ungewissen, was aber nicht an einer unentschiedenen Darstellung von Panofskys Frau liegt, sondern an den wachsenden Sympathien, die der Held auf sich zieht und an seiner dramatischen Lage, vor der der Erzähler so lange es geht die Augen verschließt. Ein brillanter Kopf, ein habitueller Trinker, belesen, charmant, rachsüchtig und ein energischer Wüstling, wischt er die Tatsache, dass ihm im Alter von siebenundsechzig Jahren das Wort für das Ding, in dem man Spaghetti abgießt, nur jedes dritte Mal in angemessener Zeit einfällt, beiseite. Und wie hießen gerade noch die sieben Zwerge bei Walt Disney? Sneezy, Sleepy, Doc, Grouchy und…?
Die Namen der Zwerge und das Sieb sind der doppelte running gag des Buches, und zwar solange, bis der Erzähler des gleichfalls fiktiven Nachworts, Barneys Sohn Michael, von dem „gemüseartigen“ Zustand seines Vaters spricht, ein Wort, das diesem absolut treffend und angemessen vorgekommen wäre. Trauer, Traurigkeit, Reue, Schuldeingeständnisse, Sehnsucht, Liebe, Angst vor dem Tod, Freundschaft in den denkbar unterschiedlichsten, aber wahrscheinlichsten Schattierungen sind die Themen dieses großartigen Romans, aber Sentimentalität erlauben sich in ihm nur die Heuchler, die Lackaffen und Blödmänner. Denn ihm, dem Erzähler, ist an einer ganz besonderen Sorte von Lesern gelegen, an denen, die von seiner Art sind: „Ich war ein unersättlicher Leser, aber Sie tun gut daran, das nicht als Zeichen meines Niveaus zu werten. Oder meiner Sensibilität. Im Grunde muß ich mit einem beifälligen Nicken in Claras Richtung die Niederträchtigkeit meiner Seele eingestehen. Mein abstoßend rechthaberisches Wesen. Was mich auf den Geschmack brachte, war nicht Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch oder Conrads Geheimagent, sondern das gute alte Magazin Liberty, das jedem Artikel eine Zeitangabe voranstellte: soundso lange würde man brauchen ihn zu lesen: zum Beispiel fünf Minuten und fünfunddreißig Sekunden. Ich legte meine Mickey-Mouse-Armbanduhr auf den Küchentisch mit dem karierten Wachstuch und las den fraglichen Artikel in, sagen wir, vier Minuten und drei Sekunden und betrachtete mich anschließend als Intellektuellen. Von Liberty ging ich über zu den Taschenbuchausgaben von John Marquands Mr.-Moto-Romanen, die es damals für fünfundzwanzig Cent in Jack und Moes Friseurladen Ecke Park Avenue und Laurier im Herzen von Montreals altem jüdischen Arbeiterviertel, in dem ich aufgewachsen bin, zu kaufen gab.“
Mordecai Richlers Vater war Schrotthändler. Und damit Sie nicht denken, dass in diesem Blog, weil ja Ferienzeit ist, tatsächlich das Wort Tanz gar nicht vorkommt, schreibe ich es hier noch als Fußnote hin: Was könnte Barney Panofsky, Inhaber von Totally Unneccessary Productions Schöneres tun, in seinen zweitglücklichsten Momenten, als loszulegen mit einem kleinen Stepptanz, ganz wie er es schon als Junge dachte: „Ich konnte weder schreiben noch malen. Hatte keine künstlerischen Ambitionen, es sei denn, man ließe meine Fantasie gelten, als Varietésänger und – tänzer aufzutreten und den netten Leuten auf den Balkonen mit einem Antippen des Strohhuts die Ehre zu erweisen, während ich in meinen Stepptanzschuhen von der Bühne tänzle….“
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nur 5 min. lesen, dann Augen schließen und entspannt, schwebend, Gedanken fließen lassen,
zu dem 5 min. Gelesenen und schon bald…
spüren Sie Herzfrieden, Glück und alles was Sie sich immer wünschten.
Ihr Glück liegt weder in Romanen, noch in Gesellschaftsbetätigung, welcher Art auch immer.
Frieden finden Sie im Alleinsein…mit Ihrem Geist…besonders im Alter.
Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupery
Beklage nicht die Dunkelheit, sondern zünde ein Licht an.
Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen.
Konfuzius