Manche mögen sich fragen, warum ich an dieser Stelle wieder und wieder auf Merce Cunningham zurückkomme und ob der Blog nicht besser „Invitation to the Dance of Merce Cunningham“ hieße. (Happy Birthday August Bournonville! * 21. August 1805) Nun, ein Grund ist, dass ich in der Kunstwelt ständig Menschen begegne, mit denen im Gespräch über die Lage des Tanzes die Rede wie selbstverständlich auf Cunninghams Einfluß kommt.
Steve Paxton (*1939) etwa, der bis zum Ende der ersten Welt-Tournee 1964 für ihn tanzte, hat mir jetzt in Berlin erzählt, warum er am Ende der Londoner Vorstellungen damals ging. Es waren keine künstlerischen Gründe. In Paxtons berühmtestem Solo, den natürlich Jahrzehnte später entstandenen „Goldberg-Variationen“ tritt deutlich zutage, welche Ähnlichkeiten zwischen den gleichermaßen charismatischen Performern Cunningham und Paxton bestanden – was Männer wie sie dem maskulinen Tanz jenseits der Prinzenrollen, der Gentlemen Balanchines oder der Sexobjekte Martha Grahams an Repräsentationsmöglichkeiten eröffneten. Paxton verließ die Company, weil er spürte nach diesen Monaten, in denen die Tänzer mit John Cage, Robert Rauschenberg und Merce in einem VW-Bus gemeinsam die Welt umrundet hatten, dass sich alles ändern würde mit den großartigen Erfolgen beim Publikum und bei der Kritik. Eine Art Stille vor dem Sturm war eingetreten, es gab noch keine neuen Auftrittstermine, keine konkreten Pläne, nur war klar, dass mit den jetzt veröffentlichten englischsprachigen Sensationskritiken aus der Alten Welt endlich, nach neun Jahren, auch eine größere amerikanische Öffentlichkeit auf die Kunst von Merce Cunningham, John Cage und Robert Rauschenberg aufmerksam werden würde. Paxton sagt, es sei einfach herrlich gewesen, eine so lange Zeit auf engstem Raum miteinander zu verbringen und sie hätten soviel gelacht. Ihm sei klar geworden, dass diese Art zusammen Kunstwerke entstehen zu lassen, sich mit der Berühmtheit ändern würde und das wollte er nicht miterleben. Das Beeindruckende an seiner Schilderung waren die noch nach so langer Zeit unerbittliche Entschlossenheit Paxtons, die Willensanstrengung hinter der Entscheidung und sein gleichzeitiges Bedauern des Unabänderlichen. Vielleicht ist es das – ich habe noch nie jemanden getroffen, der mit Merce Cunningham und seinem Werk in Berührung gekommen wäre und nicht um ihn und jedes einzelne Stück, das wir vielleicht nie wiedersehen werden- auf wie verschiedene Weise auch immer – trauerte.
Darum nun zu einem weiteren Stückchen Vergangenheitsbewältigung, ohne das die Gegenwart weniger lebendig wäre. Vor einiger Zeit habe ich hier angekündigt, dass das New Yorker Label www.moderecords.com (Mode. PO Box 1262. USA – New York, NY 10009) Cages und Cunninghams „Variations V“ (1965) auf DVD herausgibt, und zwar eine Filmaufnahme des Stücksvon 1966, die in den Hamburger Fernsehstudios des NDR entstanden ist. Dazu später.
Die BONUS FEATURES bestehen aus einer kompletten Tonaufnahme ohne Bild, die von einer Pariser Aufführung im selben Jahr stammt und langen Interviews des Archivars der Merce Cunningham Dance Company mit Tänzern, die an der Produktion beteiligt waren: Carolyn Brown, Gus Solomons Jr. und Sandra Neels sprechen mit David Vaughan. Paxton war ja schon nicht mehr dabei.
Vaughan erzählt, mit den Aufführungen von „Variations V“ habe Cunningham erstmals einen Fuß in die Tür des New Yorker „Lincoln Center“ bekommen. Die Premiere fand in der Philharmonic Hall statt, heute Avery Fisher Hall. Jasper Johns habe übrigens etwa zur selben Zeit ein Bild gemalt, auf dem Merce Cunninghams Fußabdruck verewigt wurde – um diesen dabei zu unterstützen, wie Vaughan Johns’ Worte erinnert – „einen Fuß in die Tür zu kriegen“.
Das als Vorwort, geht es in medias res. Das ist ein weiterer Grund, sich mit Merce Cunninghams Arbeit zu befassen. Wann immer von ihr die Rede ist, wird nicht drumherumgeredet, sondern es kommen sofort eine Menge Fakten, wie sich das Stück erklärt, warum etwas so oder so gemacht wurde. Alle große Kunst hat faszinierende technische Aspekte, die eng mit ihrer Bedeutung zusammenhängen.
Zum Beispiel lernt man aus dem, was der Tänzer Gus Solomons Junior erzählt, welche Tricks Choreographen gegenüber ihren Mitarbeitern so einsetzen. Merce wollte, dass Solomons in einem Solo beide Hände wie einen Rahmen um seine rechte Hüfte aufspannte und er sollte dabei mit seinem Hüftknochen eine Acht beschreiben. Und jedes Mal, wenn er es Merce zeigte, habe der „Nein, nicht ganz“, gesagt, und schließlich sei es diese nervöse Energie von Solomons gewesen, der beim Tanzen darüber nachgedacht habe, ob seine Hüftacht wohl richtig sei, die das Tanzen energetisiert habe. Also müsse es wohl das gewesen sein, was Merce schlußendlich gewollt habe.
Carolyn Brown erinnert sich, dass zum Zeitpunkt des Probenbeginns Merce seinerseits nervös gewesen sei, weil ihm John Cages musikalische Pläne und ihre Auswirkungen auf die Choreographie noch relativ unklar gewesen seien. Außerdem hatten damals nicht nur Paxton, sondern auch alle anderen Tänzer ihn verlassen – bis auf Brown. Er schuf vierzig Minuten Tanz in drei Wochen, darunter einige phantastische Soli für sich selbst. Das Stück beginnt mit dem Yoga-Kopfstand von Solomons’ Partnerin Barbara Dilley Lloyd.
Was die Filmaufzeichnung sehr gut wiedergibt, ist das aufregende und damals vollkommen neue Multimedia-Gemisch akustischer, filmischer und tänzerischer Eindrücke. Der Bühnenaufbau allein ist ein Hochtechnologie-Parcours. Stabantennen, die den Tänzern bis an die Taille reichen, sind im Kreis aufgestellt. Von ihren Sockeln führen auf dem Fußboden verklebte Kabel zu der Technik-Plattform, auf der John Cage, David Tudor und Gordon Mumma sitzen zwischen „Paraphernalia“, wie Vaughan das nennt, Radios, Tonband-Maschinen, Klangproduzierenden Maschinen. Vorproduzierte Klänge werden gemischt mit den Sounds, die entstehen, in dem die Tänzer um die klangempindlichen Antennen und die Fotozellen herumtanzen. Stan van der Beeks und Nam June Paiks Filmprojektionen und visuelle Effekte auf der rückwärtigen Leinwand sind ebenfalls nach dem Collageprinzip zusammengestellt und bestehen aus Ausschnitten von Spielfilmen, Aufnahmen der Tänzerkörper in vorausgegangenen Proben und geometrischen Farbanordnungen.
Standen die Musiker auf, wurden sie Teil der Leinwandprojektionen als Schattenfiguren. Das Stück wurde in einzelnen Partien gefilmt, dennoch für vierzig Minuten Länge in einem Drehtag sehr schnell. Der Verantwortliche Hansjörg Pauli, Leiter der Abteilung Musik beim NDR Hamburg damals, dessen Anmoderation für die Erstausstrahlung zu sehen ist, erzählt, er habe das Zufallsprinzip in der Regie übernehmen wollen und zwei Versionen hergestellt. John Cage habe ihm gesagt, er solle an Tagen, an denen er braune Anzüge trage, die zweite Version vorführen, an Tagen in grauem Anzug die erste. Man sieht dann die zweite Version. Aber die Anmoderation ist auch in Schwarzweiß (? Weiß frühes Fernsehen schon, was Fernsehen ist?) Immerhin passierte der Unfall, den Merce auf dem Fahhrad erlitt, mit dem er am Schluß des Stücks um die Antennen herumfuhr, nur einmal, nämlich bei der Premiere in der Philharmonic Hall: Der Plan war, vom Fahrrad abspringend sich irgendwo festzuhalten und in der Luft zu baumeln. Stattdessen knallte Merce mit dem Kopf gegen einen für ihn zu niedrigen Gassenausgang. Aber, wie Vaughan erzählt, machte sich Merce nichts aus Verletzungen oder Unfällen. Der Topfpflanze in „Variations V“ ging es schlimmer an den Kragen. Mikrophonverkabelt hereingetragen, riß Merce ihr Blätter aus bevor Brown sie später nicht weniger geräuschvoll umtopfte.
Manchmal ist es in der Kunstgeschichte doch erstaunlich, womit genau man so einen Fuß in die Tür kriegen kann. Und wieviele Beispiele man dafür finden kann, dass es einfach unmöglich ist, sich mit Merce Cunningham zu langweilen (siehe oben).
Schreiben Sie an mode@moderecords.com um die DVD zu erhalten (Thank you for mine, Alice!). Preis: 19,99 US-Dollar plus 12 US-Dollar Versand nach Deutschland
Ach schön!
Ein wunderschöner Rückblick auf die 60er Jahre im Tanz – Danke!