Leser englischsprachiger Tanzliteratur haben Gründe schlecht zu denken von denen, die a) keine oder b) nur deutschsprachige Tanzliteratur studieren. Ja klar, zurecht. Wörter wie „balletic“ oder „sophisticated“, wie will man die wohl übersetzen? Und Texte, in denen Tänze so nicht beschrieben werden können, weil – Beispiel! – diese Worte fehlen in der betreffenden Sprache, tja, schwierig… Nun, ich lese Walter Sorell, und das hat die beiden erwähnten Probleme für mich gelöst. Er hat seine erstmals 1981 in New York erschienene „Kulturgeschichte des Tanzes“ („Dance in its Time. The Emergence of an Art Form“) selbst aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt und meine Auflage von 1995 enthält das Wort „sophistiziert“ (Walter, I adore you!) und das Wort „ballettisch“ (Walter, you are the best!).
Sein Buch ist wirklich schön, denn es enthält Bilder früher Reigen und von Moriskentänzern und es läßt durchblicken, dass man natürlich ohne arrogant zu sein einfach nie vergessen darf, dass man in der Schule nicht lernt, warum der Sonnenkönig Sonnenkönig hieß. Anschluß an die jeweilige Gegenwart des Tanzes, davon lebt seine Geschichte. Und wenn er dreimal nicht versteht, wozu die Postmoderne gut sein sollte, macht nichts, denn seine Beschreibungen sind nie polemisch. Mitunter aber sind sie so überraschend, dass man den Atem anhält. Ich zitiere: „William Forsythe wirkt in Frankfurt als Choreograph der Kontroverse. Er hat bereits viel von dem, was man sich von ihm versprochen hatte, gehalten.“ So weit, so nachvollziehbar. Und dann: „Er ist nicht ein intellektueller Choreograph im Neumeierschen Sinne, seine Arbeiten bestechen durch ihre überraschenden theatralischen Momente und sind stets große Aufgaben für seine Tänzer. Er hat eine sehr persönliche Unterschrift.“ (Das ist süß: Handschrift!) „Er sucht nach Lösungen der Probleme, die seine Fantasie ihm stellt. Letzten Endes sind auch Forsythes Werke ballettisches Tanztheater.“ Ja genau! Das dachte ich auch schon. Bloß konnte ich es nicht genauso schreiben, weil ich mir das Wort ballettisch nie herausgenommen hätte. Ich muß das irgendwie überlesen habe bei der früheren Lektüre. Toll ist auch der letzte Satz über Forsythe: „Im Gegensatz zu Pina Bausch interessieren ihn Story und tiefere Bedeutung weniger als das Geheimnis, das im tanzenden Körper liegt.“
Bill Forsythe, kann man das so sagen? John Neumeier, empfinden Sie sich auch als Intellektuellen?
Anyways. Egalwie.
Vielleicht beruhigen sich Banker auch mit historischen kapitalen Fehleinschätzungen des Finanzmarktes. Ich muß gestehen, ja, es hat etwas Entlastendes zu sehen, wie nahe in einem Buch hellsichtige Urteile neben rückwirkend ganz deplaziert wirkenden Beschreibungen stehen können. Sorell ist mir so nahe, wenn er etwa schreibt: „Ich denke mit einem Anflug von Wehmut an Antony Tudor (1908-1987).“ Nicht nur mit einem Anflug, Herr Sorell, Sie lebten doch seit 1939, als Sie vor den Nationalsozialisten flohen aus Ihrem Heimatland, in NYC, Sie müssten Tudor doch gekannt haben?
Ich denke mit Wehmut an Walter Sorell, den 1905 geborenen und 1997 gestorbenen österreichisch-amerikanischen Tanzkritiker, Essayisten und Übersetzer. Es hätte vieles gegeben, was ich ihn gerne gefragt hätte. Und dann ist das auch unrecht. Wer möchte denn von der Nachwelt so ausgefragt werden – nach dem Motto – „Wie nahe waren Sie denn nun dem, den wir von heute aus betrachtet so wichtig finden?“ Und dann heimlich denken – Ohne Urteil bitte, bloß, was die Person gesagt hat….
Die Tanzkritiker jener Generation versprechen sich noch etwas von dem oder jenem und messen den Choreographen dann an ihren eigenen Erwartungen. Das ist auch lehrreich. Ich denke bloß – Aber mich könnt Ihr für die augenblickliche Lage nicht verantwortlich machen, denn ich habe immer exakt geschrieben, was zu tun wäre stattdessen. Also defensiver als damals. Aber wenn man auch zusehen muß, das Regeln von 1931 nicht beachtet werden, etwa diese englische: “The aim of the Ballet Club is to preserve the Art of ballet in England by forming a permanent company of dancers with a theatre of its own. However important the work done by individual artists or occasional producers, continuity remains the chief need in dancing Tradition and practice. Ballets must be preserved, artists kept together, choreographists must have a stage and a workshop.” Mary Clarke