Wer Freunde hat, hat ein Ausklappsofa zum Schlafen, jemanden neben sich auf der Yogamatte, etwas Wundervolles zu essen – und zu lesen. Ich stand am Wochenende in der reich bestückten Bibliothek des Tanzkritikers und Dichters Darrell Wilkins in der Strehlitzer Strasse in Berlin und er ertappte mich bewegungslos versunken in ein kleines vor vierzig Jahren erschienenes, leinengebundenes und mit goldgeprägten Buchstaben lockendes Büchlein: „The Stravinsky Festival of the New York City Ballet“. Topos der Weltliteratur: Leute werden mit fremden Büchern in der Hand erwischt und glänzenden Augen, wie der Kröterich in Kenneth Grahames „Wind in den Weiden“ beim Anblick eines Automobils. Man steht immer so ein bißchen im Ruch des Irren, der das, was er da entdeckt hat, vielleicht einstecken wird, so wie sich der Kröterich nicht halten kann und ein fremdes Auto ungefragt fahren, nein rasen muß, auf die Gefahr hin, erst im Graben, dann im Knast zu landen. Meine sehr viel harmlosere und keinerlei Entwendungen enthaltende Lieblingsszene steht in Vladimir Nabokovs Roman „Pnin“. Der Professor, in dessen Haus Literaturdozent Timofey Pnin, aus Russland in die Vereinigten Staaten eingewandert, das verwaiste Kinderzimmer bezogen hat, trifft in seiner Bibliothek den Untermieter und fragt stirnrunzelnd nach dessen Begehr. „Ich grase nur“, antwortet der unschuldige Pnin, „Iam only grazing“, heißt es im englischen Original, was so witzig ist, weil es ja „Iam only gazing“ heißen müßte, ich schaue mich nur um…“Pnin“ war der vierte Roman, den Nabokov in englischer Sprache schrieb, und er jagt Pnin durch eine Reihe solcher Sprachspielereien, eine Art sprachlicher Selbst-Entlastung in der post-traumatischen Phase.
Balanchine und Strawinsky juxten auch sehr viel miteinander herum und man darf sich umgekehrt vorstellen, dass viele ihrer Scherze gerade auf dem gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Hintergrund beruhten, anstatt aus den verfehlten Anpassungsleistungen einzelner Emigranten zu entstehen. Balanchines und Stravinskys liebevoller Umgang miteinander ist vorbildlich, wovon eine Reihe ihrer im erwähnten Programmbuch des Stravinsky-Festivals wiedergegebenen Dialoge lebhaft Zeugnis ablegt. Mein Lieblingsbeispiel ist dieses:
FRIENDLY ADVICE / FREUNDSCHAFTLICHER RAT
Balanchine:
I don’t take suggestions from dancers because when they come to me they don’t know anything and I teach them. The egg cannot tell the chicken how to lay eggs. I lay my own eggs, nobody can tell me how. I like to do things certain ways and I disagree with everybody but I don’t even want to argue.
Stravinsky:
Thank you very much, go to hell.
Balanchine sagt, er nehme keinen Rat an von Leuten, die er erst zu dem gemacht habe, was sie seien, das Ei könne ja nicht das Huhn lehren, wie man Eier lege. Das ist eine sehr amüsante Zusammenziehung Tanz und Tänzern. Balanchine sagt, er mache seine Sachen eben auf bestimmte Weise und stimme darüber mit niemandem überein, mehr noch, er verspüre auch nicht die geringste Lust, darüber zu diskutieren. Stravinsky sagt danke, dann fahr zur Hölle.
Auf jeder Seite lernt man etwas oder findet einen Gedanken wieder, auf den man schon in anderen Zusammenhängen gestoßen war. Über die Kompositionsweisen der beiden etwa, dass Balanchine nie allein vor dem Spiegel probierte und diese Schritte notierte, um sie später den Tänzern beizubringen. Sich in den Ballettsaal zu den Tänzern zu begeben ist für ihn, als setzte sich ein Schriftsteller an den Schreibtisch. Wie es überhaupt so deutlich wird, dass ihre gemeinsame Kunst, der Mathematisch-Sein vorgeworfen wurde, auf die denkbar zugewandteste, lebendigste Art entstand. Balanchine brauchte die Tänzer. Und Stravinsky? „I need to touch music as well as to think it, which is why I have always lived next to a piano.“ Das Programmbuch enthält außerdem herrliche Schwarzweiß-Photos von Aufführungen des Festivals von 1972, das eine posthume Hommage an den im Jahr zuvor verstorbenen Komponisten darstellte. Am Abend der Festivaleröffnung wäre Stravinsky neunzig Jahre alt geworden. Ein Foto von 1965 zeigt die beiden vor dem Theater auf der Lincoln Center Plaza stehen, einander zugewandt, als würden sie, unbekümmert um die Umstände, ihre Gespräche gerade da wieder aufnehmen, wo sie sie zuvor unterbrochen hatten, um sich für den Abend umzukleiden.
Eine andere Freundin, Editha Majer, hat mir gerade ein Buch schicken lassen, das es ebenfalls nur noch antiquarisch gibt, und das von ihrem verstorbenen Mann, Karl-Ulrich Majer, in seinem Verlag Palladion Presse (Berlin und Zürich), veröffentlicht wurde. Vor zehn Jahren wurde in der Carnegie Hall eine Ausstellung mit Photographien eröffnet: Betty Freeman’s „Music People“, und bei dem Buch handelt es sich um den wunderschönen Katalog zu Freeman’s Ausstellung. Vielleicht kann es jemand wiederauflegen? Vielleicht möchte jemand diese phantastischen Fotografien zeitgenössischer Komponisten, Musiker und einzelner Tänzer-Choreographen ausstellen? „The person inside the star performer“ wollte Freeman abbilden, wie sie in ihrem kurzen Vorwort schreibt. Entstanden aus der Liebe einer reichen, großzügigen Mäzenin zur Musik der Gegenwart, zeigen die Bilder Künstler, die Freeman für „musikalische Zauberer“ hielt. David Hockney’s Zeichnung von Betty Freeman hebt besonders die dunklen, wachsamen Augen hervor. Robert Wilson hat ihr ein hier faksimiliertes Gedicht gewidmet und sie schreibt ganz ruhig: „Their portraits are presented with the same joy with which their music has filled my long and happy life.“
Kent Nagano, Witold Lutoslwaski, Helmut Lachenmann, Morton Feldman, Pierre Boulez, und Alfred Schnittke und viele viele mehr hat Freeman (1921 – 2009) , die man als die „Medici der klassischen zeitgenössischen Musik“ bezeichnet hat, fotografiert. Und den schwimmenden Bill T. Jones in hellblauem Wasser. John Cage in der Küche, mit einem glänzenden toten Fisch in den Händen, den er gleich makrobiotisch zubereiten wird.
Danke, dass Sie mit mir gegrast haben. (Mr. Wilkins hat mir das Buch geschenkt, doch wirklich, ich habe es nicht eingesteckt.)