Es ist phantastisch, wenn man in New York oder Wiesbaden im Kino sitzen kann und dieselbe Ballettvorstellung in einer Live-Übertragung aus Moskau sehen kann. Pech hatte vor ziemlich genau zwei Jahren Svetlana Zakharova in einer solchen Vorstellung, denn nicht nur ein Popcorn essendes zufriedenes New Yorker Publikum sah sie als „Dornröschen“, sondern auch einer der strengeren Tanzkritiker der Welt, Alastair Macaulay. In der „New York Times“ schrieb er, das Bühnenbild sei goldüberladen und wechsele nicht dem Libretto entsprechend, der Prinz durchquere infolgedessen gar keinen in hundertjährigen Schlaf versetzten Zauberwald, das Libretto sei außerdem von auffälliger Unstimmigkeit. Beispiel: Warum sehe Dornröschen, wenn es aus dem Zauberschlaf erwache, nicht den Prinzen an, dessen Kuß sie geweckt habe, sondern zuerst das Publikum, dann die königlichen Eltern, und dann die Fliederfee, die schließlich so zuvorkommend sei, auf die Anwesenheit des Prinzen hinzuweisen. Funny. Good point. Das ist genau die Sorte von Inszenierung, auf die das erfahrene Tanzpublikum mit Kopfschütteln reagiert um daraufhin ausführlich die Vorzüge von Zakharovas Partner David Hallberg zu diskutieren und so irgendwie zur Ballett-Tagesordnung überzugehen. Eine blöde Aufführung? Das stört unter Menschen, die etwas von der Sache verstehen, ja nun wirklich keinen großen Geist. Aber man stelle sich vor, jemand gerät da hinein, der vielleicht sowieso Tanz für keine Kunst hält. Nicht auszudenken. Peinlich. Blamabel.

Der ausgeruhte Mr. Macaulay aber rupft noch kurz das Dornröschen, also küßt Svetlana Zakharova wach, falls die gedacht hatte, sie käme mit ihrer Interpretation so durch. Mit ihrer „more-than-proficient-technique“ (Macaulay), ihrer mehr als effizienten Tanztechnik und ihrem super Spann sei ja alles recht an der Bolschoi- und Scala-Ballerina, bloß ihre extrem hohen Beine (Sechs-Uhr-Stellung), wirkten irgendwie unkoordiniert mit ihrem eher klassisch ernstzunehmenden Oberkörper. Auch beginne und beende sie Variationen pünktlich und in Übereinstimmung mit der Musik, dazwischen aber fehle ihrem Tanz echte, tragende Verbindung zur Musik. Autsch.
Stimmt aber, wie jetzt, nicht in einer Live-Übertragung, aber auf einer DVD zu überprüfen ist, die eben bei „Bel Air Classiques” erschienen ist (DVD-Nr. BAC 101, www.belairclassiques.com). Aufgenommen wurde eine Vorstellung von Marius Petipas Ballett „La Bayadère“ zu Musik von Ludwig Minkus in einer neuen Inszenierung von Yuri Grigorovic, die statt der ursprünglichen vier Akte und sieben Szenen aus drei Akten besteht. Man kann jetzt also Svetlana Zakharova in dieser Baydère vergleichen mit sich selbst in der Titelpartie von Natalia Makarovas Version des Balletts an der Mailänder Scala, wo das Ballett mit Roberto Bolle als Krieger Solor 2012 aufgezeichnet wurde.
Das Problem ist und bleibt Zakharova. Natürlich ist es unglaublich zu sehen, wie sie im letzten Pas de deux mit Solor (sie ist längst tot und erscheint ihm als Geist) eine Diagonale mit vier Grand Jetés überquert, wovon jedes ein bißchen höher, weiter, raumgreifender als das letzte – was man beim vierten kaum mehr für möglich halten möchte. Aber ist sie ein Schatten, der aus dem Reich, dessen Grenze kein Lebender überschreitet, zurückkehrt, um dem Geliebten zu erscheinen, um ihn zu locken, ihr dorthin zu folgen? Nicht wirklich. Wie sagte Makarova einmal? „Improvisieren hat mich gerettet.“ Könnte doch jemand Zakharova dahin locken, improvisieren zu wollen. Ihre Performance aber läuft ab wie ein perfekt geplantes, eintausendprozentig geprobtes Superspektakel. Nicht eine Wimper macht da etwas anderes als Zakharova Superstar will. Das ist auch irgendwie beeindruckend. Ja, doch, das ist irgendwie auch beeindruckend. Das, äh, ist irgendwie beeindruckend….Ach, übrigens sind die Bühnenbilder und Kostüme sehr abwechslungsreich und schön, sehr Petipa und voller stylisher Artefakte der Indiensehnsucht weißer Europäer. Gemalte Palmen und Statuen von Elefanten (alles von Nikolai Sharonov.) Zakharova zählt neben Diana Vishneva und Sylvie Guillem zu den drei bestbezahlten Ballerinen der Gegenwart.