Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Das Drama des begabten Tänzers

…besteht darin, dass er/sie sich auf die Suche machen muß nach dem begabten Choreographen, der ihm/ihr ein Stück schreibt, Motto: Hilfe, ich bin eine Starballerina, holt mich aus diesem langweiligen Royal Ballet raus

Tanzkritiker der „New York Times“ unterrichteten ihre Leserschaft dieser Tage in einem transatlantischen Gemeinschaftsartikel darüber, dass Startänzer berühmter klassischer Compagnien inzwischen Verhaltensweisen an den Tag legen, die Phänomenen wie der Globalisierung und dem Turbokapitalismus zugeordnet werden können. Sie wechseln zwischen Ost und Ost – vom Marijnsky zum Bolschoi zum Mikhailowsky oder von West nach Ost – ein Amerikaner geht ans Bolschoi – und sogar vom Royal Ballet zum English National Ballet. Neu sei, dass Tänzer nicht mehr nur weltweit gastierten, wie Rudolf Nureyev, Mikhail Baryshnikov oder Sylvie Guillem das längst getan hatten, sondern dass sie nun mehreren Compagnien fest verpflichtet seien. Alina Cojocaru tanzt nicht länger beim Royal Ballet, sondern bei dem von ihrer Royal-Ballet-Kollegin Tamara Rojo geleiteten English National Ballet und außerdem für John Neumeier in Hamburg.

Das dürfte Ausdruck eines gewachsenen Selbstbewußtseins von Tänzern sein und mit der allgemeinen Steigerung ihres technischen Könnens zu tun haben. Tänzer lassen sich nicht mehr so gerne sagen, welche Rollen sie wann und wo zu tanzen haben, sie warten nicht mehr geduldig, bis sie eine Partie endlich bekommen, sondern gehen eben dahin, wo die Partie wartet, und sind auch international technisch und stilistisch kompatibel. Wie in der Oper Gesangsstars heute in London Parsifal singen und in der Woche darauf an der Scala als Alfredo auftreten, so nehmen Tänzer für sich in Anspruch, heute in New York in Giselle zu erscheinen und zehn Tage später in einem Forsythe-Abend in Moskau. Nicht nur verwischen die Unterschiede im Repertoire zwischen den einzelnen nationalen Flaggschiff-Ballettcompagnien, es scheint auch für die technischen Virtuosen unter den Tänzern leichter zu sein, von einem Stil in den nächsten Performance-Modus umzuschalten.

Man kann aus Sicht der Tänzer verstehen. Dieses Job-Hopping macht mehr Laune, als das Gefühl, am falschen Platz herumzustehen, vom Publikum bestellt, aber von keinem Stra-Vehikel-Stück abgeholt. Und dennoch hat diese Unstetigkeit etwas grundsätzlich Verschiedenes von der Neugier, die früher die aus der Sowjetunion in den Westen geflohenen Stars antrieb oder Guillem, die von einem solchen Flüchtling, nämlich Nureyev, zur Unabhängigkeit und Freiheitsliebe erzogen wurde. Baryshnikov wollte, nachdem er in den Westen geflüchtet war, eine Vielfalt an zeitgenössischen Stilen entdecken, die ihm hinter dem Eisernen Vorhang nicht zugänglich gewesen war. Ihm war bewußt, dass es in New York einen Mann namens George Balanchine gab, und dass dessen „Apollo“ eine Rolle war, in der man Tanzgeschichte schreiben konnte. Und vielleicht würde Balanchine mit ihm ein neues Ballett, mit einer Rolle für Mikhail Baryshnikov darin, schaffen. Es galt aber auch noch, mit Fred Ashton, Kenneth MacMillan, Antony Tudor, Trisha Brown, Merce Cunningham, Yvonne Rainer, und, und, und zu arbeiten. Im Moment aber gibt es diese Fülle überragender choreographischer Genies nicht. Verpaßt man wirklich etwas, wenn man gerade einzig in Amsterdam auftritt und nicht noch in Toronto oder Sydney? Es gibt interessante Choreographen, aber wenige, mit dem man als Tänzer unbedingt eine enge künstlerische Partnerschaft sucht, damit man es sich später nicht vorwerfen müßte, es nicht getan zu haben und so historische Augenblicke der Tanzgeschichtsschreibung versäumt zu haben. Und diese Choreographen legen sich auch nicht fest. Ratmansky arbeitet überall auf der Welt, genau wie Christopher Wheeldon. Wenn sich Choreographen nicht auf die Leitung einer Compagnie festlegen – Ratmansky und Wheeldon sind beide Artists in Residence – dann übernehmen sie eben auch keine Verantwortung für die Entwicklung von Ensemble und Stars. Umgekehrt will die Ballerina Alina Cojocaru natürlich nicht nur noch Werke von John Neumeier tanzen, dafür ist die Tanzwelt zu groß. Stünde sie einem einzigen Choreographen immer zur Verfügung, wäre sie für diesen auch vielleicht bald nichts Besonderes mehr. Macht man sich rar, bleibt man ein Star.

Alle diese temporären Verhältnisse klammern den Alltag aus, Repertoire-Vorstellungen, schlechte Laune, verletzte Kollegen. Die Choreographen ersparen sich, wenn sie keine Ballettdirektoren werden, endlose langweilige Sitzungen und erbitterte interne Verteilungskämpfe, Eifersucht und Einmischungen, enttäuschte Tänzer und enttäuschende Vorstellungen.

Für das Publikum ist die Entwicklung auch interessant, einerseits: In den Live-Übertragungen in Kinos weltweit und in den Vorstellungen mit Stars, die aus New York oder St. Petersburg kommen gewinnen Zuschauer einen sehr viel vollständigeren Eindruck davon, was die Tanzkunst heute ausmacht. Aber andererseits ist die weltweite Angleichung der Tanzstile ans international Akrobatisch-Athletische eigentlich total langweilig. Irgendwie ist das wie ein Hollywood, aus dem alle Filme kommen oder wie die überall zwischen Turin und Boston gleich aussehenden Einkaufspassagen mit den weltweit agierenden Marken darin. Welche Auswirkungen es auf die Tanzstudenten haben wird, wenn die Bühnen eine Art Galerien mit wechselnden Exponaten werden, ist schwer zu sagen. Vielleicht kommt es zu einer Auflösung des engen Verhältnisses zwischen den Tänzern verschiedener Generationen. Der Hauptgrund aber, weswegen so viele Tänzer nicht mehr bleiben, selbst wenn sie es an ein großes Opernhaus geschafft haben, dürfte in der Banalität der Direktorate dieser Compagien liegen. Einmal sind das heute Administratoren, Geschäftsführer, keine Führungspersönlichkeiten, die für eine klare ästhetische Linie stehen – Royal Ballet und Royal Ballet of Flanders sind Beispiele. Zweitens sind es ehemalige oder noch aktive Tänzer, die ihr Leben lang Tänzer bleiben, also keine Choreographen werden und keine begabten Ballettmeister, Coachs, Programmdirektoren werden. Beispiel Vladimir Malakhov, wegen dem Polina Semionova das Staatsballett Berlin verließ (wo sie, hallo New York Times, auch nicht mehr auftritt derzeit). Natürlich geht Cojocaru nicht zu 100 Prozent ans English National Ballet, denn ihre Chefin Rojo tanzt dort noch selbst, da wären doch Rollenkonflikte vorprogrammiert. Wozu die neue Freiheit genutzt wird, außer zum richtigen Geldverdienen (und da sind Tänzer auch mal dran) ist die eigentliche interessante Frage.