Der Winter, nicht der Sommer birgt die schönsten Tage zum Lesen von Gedichten. Es ist früh dunkel, es ist kalt, Weihnachten ist vorüber. Aber Sylvester scheint noch weit zu sein, das neue Jahr ein Phantom. Nichts und niemand könnte uns ablenken. Die Zeit steht still. Jesus liegt in seiner Krippe, die Theater spielen bloß Komödien. Die Museen sind zu voll. Der Baum duftet. Wir wollen nichts essen und nichts kaufen und nichts einlösen und nichts umtauschen. Wir wollen nur lesen. Wir wollen nur Gedichte.
Von Martina Hefter und Jan Wagner stammen die hier wiedergegebenen Gedichte. Es sind Tanzgedichte! Wenn auch auf sehr verschiedene Weisen. Den Werken sind biographische Hinweise vorangestellt.
Die Dichterin und Performerin Martina Hefter wurde 1965 in Pfronten im Allgäu geboren. Sie schreibt und erfindet außerdem Kunstereignisse, in denen sie Sprache und Bewegung zusammenkommen läßt. So war sie etwa 2012 Initiatorin und Künstlerische Leiterin von „Bewegungsschreiber. Dichtung trifft Tanz“ am Dock 11, Berlin. Im August 2013 gestaltete sie im Rahmen des Projekts „Sprechende Gänge. KOOKwalks durch Berlin“ ein choreografisches Spiel, in dem Meinungen und Haltungen zu Gedichten in eine räumliche Installation Eingang fanden. Zuletzt erschienen von ihr die Gedichtbände “Nach den Diskotheken“(kookbooks, Berlin, 2010) und “Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch” im selben Verlag in diesem Jahr. Martina Hefter lebt in Leipzig.
Die ersten beiden Gedichte stammen aus dem Kapitel „Ein Buch des Körpers“ im Gedichtband „Nach den Diskotheken“. Das Kapitel befasst sich mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers während des Tanzens. Die Zitate sind dem gesamten Kapitel vorangestellt.
Warum sollen unsere Körper an der Haut enden?
Xavier Le Roy
Unsere Leiber leben aus uns, indem sie uns anhangen.
Augustinus
Fig. I
Der Körper ein Rucksack, gut durchblutet,
immer unterwegs zum Kräftemessen mit den Gedanken,
über Wertstoffhöfe, Kompost?
Mein linker Arm beschreibt kleine Kreise.
Ich fürchte, die Gene. Sternfeuer aus Abfall.
Ich schleppe an einer Qualle, einem Blasebalg,
mit allem vertraut, was an mir haftet
an Glanz.
Ich lade auf, werfe ab,
schnips mit den Fingern, und puff.
Werde ich spüren, dass ich nichts wiege,
zwischen die Lichtbündel hüpfen,
die Spotlights schleudern?
Fig II
Man dreht sich um und ist weiß,
ein Zwerg, die Feuerwehr,
solche Ansichten holt der Wind
die Treppe zur U-Bahn hinunter.
Es zeigt das Farbenspektrum,
Staub, der die Luft filtert,
dass der Fluss sich kräuselt,
die Häuser glitzern.
Ich gehöre dazu, wachse an allem, juchu.
Ich bin autonom.
Diese Erklärung enthält lauter verblasste Bilder
des Fotos von Josephine Baker auf meinem Schreibtisch.
Muss ich ewig in dieser Haltung bleiben?
Meine Hand formt einen Hund,
Schatten, größer als ich, schwankende Riesen
bin ich an der Zimmerwand,
was deutet sonst auf mich?
Alle meine Gelenke sind innen,
das unterscheidet mich von Rosen, Krabben,
und schützt den Geist.
Das nun folgende titellose Gedicht stammt aus dem Kapitel „Nach den Diskotheken“ ebenfalls aus dem gleichnamigen Gedichtband. Das gesamte Kapitel bezieht sich im weitesten Sinn auf das Ballett „Giselle“ und den Aspekt des Sich-zu-Tode-Tanzens, wobei der Schwan am Schluss, wie die Dichterin sagt „natürlich ein kleiner, ironischer Fremdkörper ist.“
Bis hin zur Pferdehaftigkeit.
Mach Böckchen vorm Security-Mann,
kann er sein gold durchschossnes Ohr verschwenden
an eine winselnd kleine Einlassbitte? Meister?
Hab ich gesagt, dass heute Sonntag ist?
Nicht aufhörn können ist kein Spazierritt.
Unters Hemd schleicht Trockennebel,
nimmt, was ihm gehört, den Beutel Herz,
der sich ein Lied zusammenklampft,
Arme anlegt, den Affen grad mal im 4/4 schafft,
so Bildungslücke, so Sardine, das Seit-tipp-Ran.
Da hilft nur sich entrücken, Schwan.
Man spürt den Nebel schon am Knie
Es folgt zum Abschluß ein Gedicht aus dem Kapitel „Bewegungen“ des Bands „Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch“. Das Kapitel übersetzt Bewegungen und Gesten des Alltags in Sprache und besteht aus Gedichtpaaren – jeweils einem Ausgangsgedicht und einer Variation. Ausgehend von dem Gedanken, dass man eine Tanzsequenz in einzelne Bewegungen zerlegen und wieder zu einer neuen Sequenz anordnen kann, hat die Lyrikerin in den Variationen der Ausgangstexte das Wortmaterial abwandelnd benutzt.
Headbanging
zu Motörhead
Ich spiele rechtschaffen mit Sound, bitter
und scharf seien seine Farben, schick
Impulse in meine Frisur, nutz ihren Schwung.
Ich schraube mich in Luft, nicht wirklich
nüchtern, nicht wirklich überschäumend.
Dann verschachtelte Parts, die eine andere schütteln.
Ja, ich hänge gern in meinen Rippen.
→ tanzen
Quickstepp
Meine Rippen sind verschachtelt,
jemand schüttelt mich mit Schwung,
überschäumend sein Impuls.
Meine Frisur hängt verspielt,
luftig verschraubt mit Wirklichkeit.
Schärfe ist in allen Farben.
Ich werde das nüchtern kaum schaffen.
Der Dichter Jan Wagner wohnt in Berlin. “Probebohrung im Himmel” hieß sein erster Lyrikband, der 2001 im Berlin Verlag erschien. Drei Jahre später folgte “Guerickes Sperling” und 2007 “Achtzehn Pasteten”, ein Band, von dem sich Thomas Steinfeld in der „Süddeutschen Zeitung“ begeistert zeigte. Einen „Meister des Entzückens“ nannte er Wagner. Der Dichter arbeitet auch als Übersetzer, so übertrug er unter anderen die Lyriker Dan Chiasson und Matthew Sweeney, James Tate und Charles Simic aus dem Englischen ins Deutsche. Mit Björn Kuhligk gab Wagner zwei Anthologien zeitgenössischer deutscher Lyrik heraus: “Lyrik von Jetzt”, 2003 im DuMont Literatur- und Kunstverlag, und “Lyrik von Jetzt 2″, 2008 im Berlin Verlag. Die beiden gaben außerdem den lyrischen Reiseführers “Der Wald im Zimmer: Eine Harzreise” heraus. Zu Wagners Auszeichnungen zählen der Alfred-Gruber-Preis 2004, der Mondseer Lyrikpreis 2004, der Anna-Seghers-Preis 2004, der Ernst-Meister-Preis 2005, der erste Arno-Reinfrank-Literatur Preis 2006, das Casa-Baldi-Stipendium der deutschen Akademie Rom 2007, das Max Kade Writer-in-Residence at the Department of German Language and Literatures in Oberlin, Ohio (2008), der Wilhelm-Lehmann-Preis 2009, der Lessing Preis 2009, das Stipendium der deutschen Akademie Rom Villa Massimo 2011, der Friedrich-Hölderlin Preis 2011, der Kranichsteiner Literaturpreis 2011 und der Paul-Scheerbart-Preis 2013. 2010 erschien im Berlin Verlag Australien und im selben Verlag im Jahr darauf “Die Sandale des Propheten. Beiläufige Prosa” – ein Buch, in dem er über Lyrik und Lyriker-Kollegen schreibt, leidenschaftlich, klug und kenntnisreich. 2012 druckte Hanser, Berlin “Die Eulenhasser in den Hallenhäusern: Drei Verborgene.” Lothar Müller nannte die Charade Wagners, der hier drei Lyriker, ihre Dichtungen, und deren publizistische Folgen erfindet, „eines der erfreulichsten Bücher des Jahres“. Hier also das Gedicht „laken“ von Jan Wagner.
laken
großvater wurde einbalsamiert
in seines und hinausgetragen,
und ich entdeckte ihn ein jahr später,
als wir die betten frisch bezogen,
zur wespe verschrumpelt, winziger
pharao eines längst vergangenen sommers.
so faltete man laken: die arme
weit ausgebreitet, daß man sich zu spiegeln
begann über die straff gespannte fläche
hinweg; der wäschefoxtrott dann, bis schritt
um schritt ein rechteck im nächstkleineren
verschwand, bis sich die nasen fast berührten.
alles konnte verborgen sein
in ihrem schneeigen innern: ein leerer
flakon mit einem spuk parfum, ein paar
lavendelblüten oder wiesenblumen,
ein groschen oder ab und zu ein wurf
von mottenkugeln in seinem nest.
fürs erste aber ruhten sie, stumm
und weiß in ihren schränken, ganze
stapel von ihnen, eingelegt in duft,
gemangelt, gebügelt, gestärkt,
und sorgfältig gepackt wie fallschirme
vor einem sprung aus ungeahnten höhen.
Aufforderung zum Tanz dankt den Dichtern für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.