Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Beherrscher der Elemente

Jean Babilée, französischer Star des Balletts, dessen Ruhm eine eigens für ihn geschaffene existenzialistische Choreographie begründete, nach einem Libretto von Jean Cocteau, ist in Paris gestorben.

Es gebe zwei Sorten von Tänzern, sagt Mikhail Baryshnikov im Gespräch zu Jean Babilée, das Element der einen sei die Luft, die anderen besäßen das Vermögen, regelrecht in den Boden hineinzugleiten, als handelte es sich um Butter…Babilée aber sei der rare Fall eines Tänzers, der beiden Elementen angehöre, Erde und Luft. Und ob es sich dabei um eine Gabe handele, frage er sich seit langem, oder um eine absichtsvoll hart erarbeitete Fähigkeit. Babilée lächelt und antwortet, nein, das sei „naturel“, das sei in ihm, darin drücke sich das Vergnügen aus, den Körper zu kontrollieren.

So herrlich wie ungewöhnlich klingen diese Worte in unseren Tanztheater-gewohnten Ohren. Gerade führte doch das Tanztheater Wuppertal noch einmal in „Bandoneon“ vor, welche Methoden Tänzer und ihre Ballettmeister so zur Anwendung bringen, um die Kontrolle über ihre Körper zu erlangen, zu verbessern: Zum Beispiel sitzt man im Schneidersitz und bringt die Fußsohlen zueinander, richtet die Wirbelsäule auf und drückt dabei die Knie zu Boden. Nun können Kollegen, Lehrer oder andere hilfsbereite Menschen mit den Füßen auf die Oberschenkel des Übenden steigen, um die Hüftöffnung zu verbessern und Knieberührung mit dem Boden zu erreichen. Es schaudert das Publikum, das sind doch Zirkustricks, Foltermethoden. Das ist aber ein Bluff. Bei trainierten Leuten, deren Muskulatur und Dehnung entsprechend trainiert sind, tut das überhaupt nicht weh (mein indischer Ashtanga-Yoga-Lehrer hat das heute abend bei mir gemacht. Das tut nicht weh, wirklich).

Jean Babilée aber wäre nicht im Traum eingefallen, solche Maßnahmen fragwürdig zu finden. Das Vergnügen an Körperbeherrschung war ganz auf Seiten des Publikums, im Falle dieses Tänzers.

„Le Mystère Babilée“, der 2000 gedrehte Film von Patrick Bensard, enthält Baryshnikovs Gespräch mit Babilée. Seit gestern ist die Dokumentation immer noch dieselbe wunderschöne Hommage, aber nurmehr Erinnerung an einen Menschen, der nicht länger lebt. Am Donnerstag Morgen starb Jean Babilée in einem Pariser Hospital, wenige Tage vor seinem einundneunzigsten Geburtstag.

Babilée wurde mit Nijinsky verglichen, was Ausstrahlung, Elevation, Momentum, Zeitgefühl seines Tanzens betraf. Darum auch erinnert sich die Tanzwelt so intensiv und genau an seine Auftritte. Wie Nijinsky mit dem Sprung durch das offene Fenster als Michel Fokines „Spectre de la Rose“ gleichsam den Sprung des Balletts in die Moderne verkörperte, so manifestierte sich mit der für Babilée geschriebenen Rolle des jungen Mannes in „Le jeune homme et la mort“ die Zeitgenossenschaft des modernen Balletts mit dem Existenzialismus. 1946 tanzte Babilée die Premiere (Baryshnikov übernahm die Rolle später von ihm). Damals war er dreiundzwanzig Jahre alt und fand, seine Energie sei dort perfekt kanalisiert, der junge Mann, dem der Tod als unwiderstehliche Geliebte erscheine, sei er. Das ist vielleicht nachvollziehbar, wenn man weiß, dass sich Babilée unmittelbar zuvor anhaltend und bewußt und ohne jede Furcht Todesgefahren ausgesetzt hatte. Die letzten Monate vor Kriegsende schlief er in den Wäldern, das Gewehr in den Armen, ein Mitglied der Résistance. Nicht nur gehörte Babilée der Luft genauso an wie dem Irdischen. Er nahm auch die Realität genauso klar wahr wie die Welt des Theaters, und handelte entsprechend. Die Welt, nicht nur die Tanzwelt, hat einen tapferen, begabten, geliebten Protagonisten verloren.