Ende des vergangenen Jahres erschien ein Buch Jacques Rancières, das der französische Philosoph 2011 in Paris unter dem Titel „Aisthesis. Scènes du régime esthetique de l’art“ veröffentlicht hatte, erstmals auf Deutsch. In vierzehn Szenen beleuchtet es Schlüsselmomente in der Geschichte der Ästhetik. Diese beginnt für Rancière, wie er im Vorwort schreibt, mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, ist also gebunden an die Revolution, daran, dass die „Hierarchie der Lebensformen ins Wanken geriet“. Mit dem Begriff „Aisthesis“ will Rancière einen „Erfahrungsmodus“ beschreiben, es handele sich nicht allein um die konkrete Rezeption von Kunstwerken, sondern „um das Gewebe sinnlicher Erfahrung, innerhalb dessen sie hergestellt werden“: Es sind sowohl materielle Bedingungen, Formen der Aufführung und Ausstellung, Verbreitung und Reproduktion, als auch „Wahrnehmungsweisen und Empfindungsregime“. Sein Buch zeige, so der Autor, „wie ein Regime der Wahrnehmung, der Empfindung und der Interpretation von Kunst sich konstituiert und verändert, indem es Bilder, Gegenstände und Aufführungen in sich aufnimmt, die der Idee der Schönen Kunst am meisten zu widersprechen schienen: vulgäre Gestalten der Genremalerei; Verherrlichung der prosaischsten Tätigkeiten in Versen, die sich von jeglicher Metrik losgesagt haben; Akrobatik und Possen der Varietétheater; Industriegebäude und Maschinenrhythmen; von einem mechanischen Apparat reproduzierter Zugs- oder Schiffsrauch; extravagante Inventare vom Leben armer Leute“.
Und schließlich beziehe er sich mit dem Titel und der schlaglichtartigen Erhellung ausgewählter Augenblicke auf Erich Auerbachs berühmtes Buch „Mimesis“, in dem jener die Entwicklung literarischer Wirklichkeitsabbildung von der Antike bis zur Moderne an kurzen Beispielen erörtert hatte.
Rancière befasst sich nicht mit jenen Werken, die als brillanteste Beispiele einer Epochenkunst oder eines Stils gelten, er verweist auf die Nachträglichkeit solcher Zuschreibungen. Es sei aber auch nicht seine Absicht gewesen, auf eine Gegengeschichte abzuzielen – es ist eine Suche nach Anfängen, nach Experimenten, nach dem Aufbruch ins Neue.
So folgt Rancière in Kapitel 6 „Der Lichttanz. Paris, Folies-Bergères, 1893“ Stéphane Mallarmé an den Schauplatz der Revue. Hier tritt die amerikanische Tanzkünstlerin Loie Fuller auf, die für die Kritik ihrer Zeit nichts Geringeres als die Erneuerung der Kunst aus dem Schönheitsideal der griechischen Antike und dem Geist der Neuen Welt unternimmt. Wie das? Nun, Fuller – etwa in ihrem legendären „Danse Serpentine“ – weiß sich mit Hilfe modernster Beleuchtungstechnik, geschickt in wallende Formen gebrachter Stoff-Fülle und durch unsichtbar im Kostüm angebrachte Stäbe, die ihre Arme verlängern, in ein Bühnenfabelwesen zu verwandeln. Mal ähnelt sie herumschwingend einer sich öffnenden Blüte, mal einem von hier nach da schwebenden Schmetterling. Ganz richtig gibt Rancière wieder, dass es sich nicht um eine tänzerisch revolutionäre Vorstellung handelt, denn choreographisch bestehen Fullers Ausführungen überwiegend aus simplen, in Absatzschuhen getanzten Drehungen, auf verschiedenen Höhen schreitenden Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen – auf Zehenspitzen, ganzem Fuß oder tief im Plié, mit gebeugten Knien. Das Ereignis besteht darin, dass zu einer Zeit, da Lew Iwanow und Marius Petipa in St. Petersburg mit den großen Handlungsballetten Dornröschen, Nußknacker und Aschenputtel die späten Höhepunkte eines tänzerischen Genres für großes Ensemble feiern, in Paris eine einzige Gestalt auf der Bühne erscheint, „auf ein Spiel von Linien und Tönen reduziert“.
Der Titel „Danse Serpentine“ verleitet Rancière zu einer schönen Spekulation über die Bedeutung des Schlängelnden, dieses sei, schreibt er, „die Zerstörung des Organischen als natürliches Modell des Schönen. Der Gegensatz zur Ordnung der geometrischen Proportionen ist die sich städnig verändernde Linie, deren Eigenschaften ständig ineinander verschmelzen.“ Der verdeckte Körper benutze Technik und Material, um seinen Formen und Funktionen zu verändern, im Gegensatz zur Bildhauerei und ihren Aktdarstellungen ist Fullers Kunst eine keusche, entsexualisierte. Das „Ereignis Loie Fuller“ geht über den Tanz hinaus. Zwar ist Fuller, wie Rancière ganz richtig schreibt, „Teil des Bruchs, durch den die neue Kunst des Tanzes die repräsentative Kunst des Balletts ablöst, die die Fähigkeiten des Körpers der Veranschaulichung von Geschichten unterwarf.“ Aber sie ist für die Entwicklung einer genuin modernen Tanzkunst eben nicht einschlägig, weil nicht ein neues Vokabular im Zentrum ihrer Kunst steht, sondern die Überschreitung der Genregrenzen. Mit ihren Apparaturen, den Spiegeln, Lampen unter dem gläsernen Bühnnboden und Gestellen in den Kleidern erzielt sie filmische Wirkungen, sie ist eine bewegte Skulptur. Es handelt sich um aus der Elektrizität wiedergeborene „Kunst-Berauschtheit“. Das findet Rancière bahnbrechend, nicht bloß dekorativ. Die Kunst erschafft neue Welten, in denen sie mit der Technik und der Wissenschaft verschmilzt, diesen Traum des Fin de siècle beschwört Loie Fuller. Bis heute darin erfolgreich hat sie sich in die neue schöne Technikwelt des Internets geflüchtet. Da spukt die hübsche Kunsthandwerkerin bis heute fröhlich herum.
Jacques Rancière: “Aisthesis”. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard, Wien 2013, Passagen Verlag, Euro 39,90