Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Tony Rizzi and the Bad Habits im Frankfurter Mousonturm

Alles über ihr großartiges neues Stück "Wisdom of No Escape (Keine Angst, es gibt Untertitel)". Das stimmte, und was es noch zu sehen gab.

Everybody looked younger after having practiced meditation during the rehearsal process. Even the ones who didn’t believe in it….

Tony Rizzi

Das Leben als Tanzkritiker ist glamourös, und spaßig. Hier der Beweis. Einladungen wie diese kriegt nämlich nicht jeder zugeschickt:

Bildmeldung der Oper Leipzig, 06. März 2014

Der Ballettabend „MOZART REQUIEM“ feiert am Samstag, 8. März, 19 Uhr Premiere in der Oper Leipzig. Das Leipziger Ballett und Mario Schröder widmen sich einer geheimnisumwitterten Komposition und zwei schillernden und mythenumrankten Künstlerpersönlichkeiten: Wolfgang Amadeus Mozart und Pier Paolo Pasolini verbindet ein exzessives Leben für die Kunst und einen viel zu frühen, bis heute nicht vollständig geklärten, mysteriösen Tod.“

Da verbindet die doch wirklich einen viel zu frühen, bis heute nicht vollständig geklärten und auch noch mysteriösen Tod. Das ist rätselhaft, nicht nur grammatikalisch. Jetzt frage ich mich, haben das Leipziger Ballett und Mario Schröder etwas herausgefunden über Wolfgang und Pier? Also, handelt es sich um die Gattung investigatives Handlungsballett zu den Themen Exzess, Mysterie, Tod? Jedenfalls schillert es mächtig, alles ist irgendwie umwittert oder mindestens umrankt. Mozart und Pasolini. Hätte ich ja auch von selbst drauf kommen können. Super, Mario. Schröder und das Leipziger Ballett. Das Stück braucht man so dringend wie Duftbäumchen im offenen Cabrio – und doch fahren die Leute damit herum.

Ein paar Wahlmöglichkeiten hat man im Leben schon, es besteht gleichsam aus verschiedenen verschlossenen Türen, vor jeder von denen man frei ist zu warten, wie sich gestern abend in der Premiere von „Wisdom of No Escape“ herausstellte. Aber das Warten ist unterschiedlich unterhaltsam – an diesem Abend ausgesprochen. Wird man aus ausweglosen Situationen klug? Vielleicht, wenn man sie in Gesellschaft von „Tony Rizzi and the Bad Habits“ verbringt. Denn die Bad Habits öffnen einfach gegen Ende des Abends die Türen der Hinterbühne des Mousonturms und lassen ihr Publikum doch zumindest vorübergehend entkommen auf eine Zigarette oder einen kleinen Tanz im Hof. Da waren aber alle schon ganz ernst geworden. Rizzi, der zwischen den Frauen und Männern seines wundervollen Ensembles umhereilt in weißen Ballettstrumpfhosen über einem roten Herrenslip, das weiße T-Shirt kurzärmelig, reißt an diesem zweistündigen Abend den Vorhang weg vor den letzten Fragen von Alter, Krankheit und Tod. Fast scheint das Leben danach so eine Art Durchgangsstation zwischen Noch-Nicht-Existenz und Nicht-Mehr-Existenz. Und wie würde das Theater heute das zum Thema machen können? Ein bißchen zunächst wie in der Commedia dell’Arte, mit weißer Schminke und Rouge auf den Wangenknochen für Rizzi und seinen singenden Samtvorhangträger, den bärtigen und witzigen Eric Lenke. Die zwei wechseln in die Rolle von Beleuchtern, sobald ihr Entree abgespielt ist. Dann treten Sabina Perry, Douglas Bateman, Yari Stilo, Imma Rubio Tomas, Irene Klein, Kristina Veit und Martin Blahuta vor die Leinwand, auf der es Schwarz-Weiß flimmert und rauscht. Alle Schauspieler aber sind schwarz gekleidet, grau und schwarz geschminkt und allen blonden Frauen wurden dunkle Perücken aufgesetzt. Auf der Tribüne sitzend, beobachtet das Publikum diese herabgestiegenen Leinwandhelden in ihrer eigenartigen Zwischenexistenz – mehr als Schemen, aber doch nicht lebendig, dramatisch, aber letztlich unentschlossen, eine Art Kunstvampire, die sich nicht schlüssig werden können, wohinein sie beißen müßten und was ihr Saft wäre. Die Wirkung ist so faszinierend wie unheimlich. Rizzi bleibt bei dieser Idee und läßt sie ausspielen, und siehe da, der Effekt hält. Die Untertitel geben Rizzis gewohnt schlagfertigen und anregenden Gedankenfluß wieder, Dinge, die er in seiner Umgebung beobachtet, an sich selbst bemerkt, beim Reisen erlebt hat. Pause nach einer halben Stunde, die viele Stunden beim Tanztheater Wuppertal liebevoll und knapp zusammengefasst und ordentlich wegsortiert hat, um jetzt mal etwas italo-amerikanischen Tänzer-Sarkasmus als Grundstimmung zu verbreiten.

Nach der Pause darf das Publikum um die Leinwand herum und hinter ihr in eine große Halle eintreten. Jeder lebt auf seiner eigenen Leinwand, hieß es im ersten Teil, und nun stellt sich heraus, das war ein Versprechen. Floral gemusterte Papp-Hocker werden zu Pop-Up-Mauern errichtet, bilden etwa die Aufbahrungsstätte für Irene Kleins heroisch erbleichende „Jeanne d’Arc“. Zuvor allerdings ist sie mit dem Rollstuhl in die Mauer gekracht wie mit einem außer Kontrolle geratenen Boliden. Es gibt hinreißende Tänze, die das gleiche illustrieren: Sprechen, und jede andere Form von Kommunikation ist alles, was die Isolation vielleicht, vorübergehend aufheben kann – daher der Untertitel des Stücks „(Keine Angst, es gibt Untertitel“). Das ist auch der Grund für Aufschub bei dem Vorhaben, sich selbst umzubringen – durch Unfälle, Überfälle, Drogenmißbrauch, exzessives Verhalten, falsch verstandenen Heroismus oder langsam, durch Betrachten des eigenen Schwundprozesses. Kindheit und Jugend spielen in Bildern und Musik der Popkultur hinein, als wären diese Filme und Lieder wie unbewußt zu erfüllende Aufträge. Immer wieder tarnen sich die Tänzer unter durchsichtigen Gesichtsmasken, auf die geisterhafte Augenbrauen aufgemalt sind, und sofort schwebt über der großen Halle erneut eine unheimliche Atmosphäre. Wer sind die Geiselnehmer, von denen sich die Lebenden gefangen halten lassen – das Sein als ewiger Griff in die Verkleidungskiste… Aber das ganze Verwandeln, Herumspielen, Maskieren, das Zwei-Zigaretten-Gleichzeitig-Abrauchen, macht es alles intensiver oder läßt es die verbleibende Zeit nur schneller ablaufen? Da werden wieder ein paar Zuschauer freundlich weggescheucht. Imma Rubio taucht zu Amy Winehouse’ „Back to Black“ erst Zunge und Lippen in eine Flasche mit schwarzer Flüssigkeit und läßt diese dann über ihren ganzen Körper verrinnen, sie kämpft mit dem Plastiksack, bis sie wie leblos darauf zusammenbricht. Irene Klein beleuchtet mit einem winzigen Licht die aufgemalten Knochen auf ihrem schwarzen Beintrikot. Auf diese Weise Kunst und Leben zu vermischen und dieses herrliche schlecht abgepuderte, billige, unter der Perücke verschwitzte Theater zu gewinnen, das ist nur von diesem wie der Conferencier aus „Cabaret“ die Geschicke des Abends lenkenden Tony Rizzi konsequent und schön und lehrreich. Bleibt zu berichten, Rizzis reizende alte Mutter spielte Scharade, William Forsythe tanzte mit ihr, alle tanzten mit allen, und das ist auch der Sinn der Sache, dieser herrlichen, schrecklichen Rizzi-Sache. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, einfach in seine Stücke zu gehen, „Wisdom of No Escape“ ist noch zu erlangen bis einschließlich 9. März.