Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Zu dick: Tamara Karsawina, 1885 – 1978, käme heute durch keine Audition mehr

Beim Mariinsky-Theater mag das ja so durchgegangen sein, Madame Karsawina: Eine neue DVD durcheilt die medial festgehaltene Tanzgeschichte wie Japaner Europa und beurteilt deren Stars neu

Oh gosh, ballet!

Ach du liebe Güte, Ballett!

Clement Crisp, Kritiker eben dieses Genres

Auf der neu bei Arthaus Musik erschienenen DVD „A History of Dance on Screen“ führt der einundsiebzigjährige Bob Lockyer neunzig Minuten durch die Geschichte des Tanzes, soweit sie filmisch dokumentiert ist. Lockyer, vierzig Jahre lang Fernsehproduzent und Direktor der Tanzprogramme der BBC, erklärt etwa zu Bildern von Anna Pavlovas Londoner Wohnsitz, dass die berühmte Tänzerin – für sie wurde das Solo „Der Sterbende Schwan“ choreographiert – sich häufig an ihrem Gartenteich stehend habe fotografieren lassen, beim Schwänefüttern. Wir sehen Pavlova als Sterbenden Schwan, aufgenommen 1924 in einem Hollywood-Studio. Isadora Duncan, eine der Pionierinnen des Modernen Tanzes, hatte einige Liebhaber, sagt Lockyer. Tamara Rojo, noch in ihrer Funktion als Erste Solistin beim Royal Ballet, tanzt Frederick Ashton’s Choreographie „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“. Und so eilt der Film weiter wie eine Biene von Blume zu Blume. Klar, fast alle Blüten sind schön, aber am Ende des Neunzig-Minuten-Flugs ist man schwindlig und desorientiert und vollgesogen mit dem Nektar von tausend Tanz-Schnipseln. Man ist soweit, dem Seufzer des legendären, im Film gewohnt meinungsstark erscheinenden Tanzkritikers Clement Crisp ganz andere Dimensionen abzugewinnen: „Oh gosh, ballet!“. Gottogott, Ballett: Loie Fullers Serpentinentanz, gefilmt und Bild für Bild nachkoloriert von den Brüdern Lumière. Tamara Karsavina, eine der bezauberndsten Ballerinen, die aus dem vorrevolutionären St. Petersburg nach Paris und damit ins zwanzigste Jahrhundert des Tanzes sprangen, steht an der Ballettstange und kann sich aus dem Off anhören, dass sie heute kein Engagement mehr bekäme – nicht gut genug, nicht dünn genug. Geschenkt! Das ist fast einhundert Jahre her! Welche technischen Aspekte welcher Kunst haben sich da nicht weiterentwickelt? Welcher Film über Bildende Kunst würde Claude Monet attestieren, er käme mit den Tools der Multi-Media-Kunst heute bestimmt nicht klar? Vielleicht stimmt es sogar, was die „Ballet Boyz“ Billy Trevitt und Michael Nunn sagen, dass heute Tänzer erstrangige Athleten sind und körperlich perfekt gebaut, um den technischen Anforderungen der gegenwärtigen Choreographen gerecht zu werden. John Neumeier, prinzipiell begeistert von den filmischen Möglichkeiten, erklärt, ein Regisseur, dem er gestatte, seine Ballette zu filmen, müsse mit seinem, Neumeiers Werk, unbedingt sympathisieren, anders ginge das nicht.

Am Broadway kamen die technischen Möglichkeiten und die ästhetischen perfekt zusammen und führten zu den größten Hollywood-Erfolgen der Musical Comedies. Lockyer meint, man könne entweder Gene Kelly oder Fred Astaire favorisieren, das ist natürlich totaler Quatsch. Trotzdem ist es wahr, dass „Royal Wedding“ von 1951 eine der besten Nummern Astaires enthält, den Tanz mit einem im Sport als Stangenhalter benutzten Holzgerät, das ihm eine lebendige Partnerin mehr als ersetzt, vor allem, wenn man bedenkt, dass Holz ohne Gage, Pausen, aufwändige Kostüme und schnippische Bemerkungen arbeitet, anders als Ginger Rogers.

Clement Crisp favorisiert die „Roten Schuhe“ und Moira Shearer. Es kommen noch Nurejew, Fonteyn, LeRiche, Merce Cunningham und „Alice in Wonderland“ vom „Royal Ballet“ vor, Sidi Larbi Cherkaoui, Pina Bausch und Maurice Béjart, tanzende Kinder und Hiphopper (siehe Clement Crisp weiter oben).

Während die Interviews neues Material darstellen, sind die filmischen Abschnitte aus allen Archiven der Welt herbeigezaubert. Manches Material lag aber auch so nah, dass es besonders prominent präsentiert wird, so nämlich Ausschnitte aus dem ebenfalls gerade bei Arthaus erschienenen Porträtfilm von Sasha Waltz. Brigitte Kramer, Regisseurin dieses Porträts, findet die „Sacre du printemps“-Version „very physical“ bei Waltz, und sie habe den Stoff in die Abstraktion vorangeführt.

Man hätte das Thema Tanz und Film gerne etwas in die grundsätzlichen Begriffe weitergeführt gesehen. Aber welche Tänze Cunningham wie etwa mit Charles Atlas (der gar nicht vorkommt) eigens für die Kamera schuf, fehlt in diesem Film, und die unterschiedlichen Möglichkeiten und Kategorien – Dokumentation, Speichermedium, künstlerisches Medium eigener Prägung, etc. – werden mitunter nur beiläufig erwähnt, aber nicht gründlich bebildert. So bleibt auch ganz unklar, welche Adressaten dieser Film eigentlich hat – für die einen ist er doch zu voraussetzungsreich, für die anderen enthält er zu wenig Neues.

 

 

 

Arthaus Musik Documentary, Nr. 101 690. Regie Reiner E.Moritz, Ton Englisch, deutsche und französische Untertitel, 90 Minuten, Preis ca. 25,- Euro. Wer auf www.arthaus-musik.com nach dem Film schaut, kann sich zum Kauf weiterleiten lassen.