Aufforderung zum Tanz

Aufforderung zum Tanz

Was sie schon immer über Tanz hätten wissen wollen können und bisher nicht auf die Idee kamen zu fragen.

Es ist doch nicht Hirnchirurgie, es ist Ballett!

"It's not Brain Surgery, it's Ballet!" hieß eine der Folgen der Reality-TV-Serie "Breaking Pointe", die mit dem Ballet West gedreht wurde. Jetzt wollen die Teenager-Zuschauer die Tänzer live erleben.

Könnte jemand die Gattung des Tänzerinterviews abschaffen, bitte? Uljana Lopatkina, Weltstar des Balletts und bewunderte Erste Solistin des Marijnsky-Balletts in St.Petersburg, fürchtet keinen Kritiker ihrer Kunst so wie die eigene Mutter. Das gab sie der Tanzjournalistin Laura Capelle zu Protokoll, nachzulesen im „Pointe Magazine“ https://pointemagazine.com/issues/februarymarch-2013/reverence-purity-and-power Lopatkina meint, Tanzen sei kein Beruf, in dem man sich selbst verwirkliche, sondern eine Profession, die den Ausübenden vollkommen versklave und das Wort „Privatleben“ praktisch aus dem Wortschatz streiche. An freien Tagen kümmere sie sich darum, ihre gute Figur zu erhalten. Prima Sklavenbeschäftigung, oder ist das ein Euphemismus dafür, dass sie putzt, bügelt, einkauft, putzt, saubermacht und staubwischt? Wie wäre es zur Abwechslung mit lesen, Uljana? Das verbraucht erst mal Kalorien. Oder sie könnte mit jemandem eine WG gründen, der liest, Gedichte wie „This is just to say“ von William Carlos Williams, und der dann dementsprechend nachts einfach schon mal wegisst, was sonst Lopatkina an ihrem freien Tag zum Frühstück hätte essen können, essen müssen. Die kalten, süssen Pflaumen, die der schlaflose Williams seiner Liebsten aus dem Kühlschrank stahl. Bygones. Da Tänzer kein Privatleben haben (Schluchz! Aber irgendwie bleibt euch da auch was erspart, Tänzer!) ist folgerichtig die 2012 gestartete Reality TV-Serie „Breaking Pointe“ mit den echten Tänzern des in Salt Lake City im amerikanischen Bundesstaat Utah beheimateten „Ballet West“ jetzt im Januar eingestellt worden. Es war einfach zu langweilig bei denen! Außer plié, tendue, Salat, plié, tendue, kamen kaum Wörter vor und die Liebesgeschichten spielten sich alle an derselben Ballettstange ab, wenn überhaupt, denn s.o. In der wie immer äußerst lesenswerten Frühlingsausgabe von „Ballet Review“, der in New York erscheinenden einzigen lesenswerten Tanzzeitschrift des Planeten – in der gerade darüber diskutiert wird, ob auch dieses Magazin dem virtuellen weltweiten Web ein warmes Willkommen zurufen soll oder doch lieber PAPIER UND NICHTS ALS PAPIER bleiben soll – also in dieser erneuten Papierausgabe schreibt der immens unterhaltsame Joseph Houseal über Ballet West und darüber, dass er es kaum ertrage, länger als fünf Minuten zuzuschauen bei „Breaking Pointe“, so dämlich sei das. So zu denken sei allerdings sein eigenes Problem, fährt er fort, er sei eben älter als zwanzig und falle damit aus dem Beuteschema der TV-Produzenten heraus. Ballett-Realitäts-Fernsehen ist das reine Teenager-Fernsehen, um es mit Ditsche zu übersetzen. Houseal hält diesen witzigen Ton charmant durch. Eine Aufführung von „Dornröschen“ beim Ballet West kommentiert er im selben Artikel mit den Worten, dieses Ballett ziehe eine Spur trauriger Opfer hinter sich her – also von Tänzern, die es nicht gebracht haben. Und nun kommts. Houseal berichtet, das Auditorium Theater in Chicago sei bei der von ihm besuchten Ballet West-Vorstellung von „Sleeping Beauty“ derart zum Bersten mit Teenagern gefüllt gewesen, dass die Luft geknistert habe, weil eben alle diese Teenager das Dornröschen Christiana Bennett auf der Bühne bereits aus dem Fernsehen kannten, ihre „Aufs und Abs, ihre Rivalinnen, ihr Gewicht, ihren Ex-Freund ( den Bastard), ihren Lieblingssalat, und zuvörderst, wie hart sie in Utah gearbeitet hat – unter dem wachsamen Auge von Ballettdirektor Adam Sklute – um eine amerikanische Ballerina zu werden. Wie sehr sie das wollte.“ Houseal schreibt, die jugendlichern Zuschauer hätten eben auf ihren Fernsehern zuhause miterlebt, wie diese Ballerina es versucht habe, und nicht immer erfolgreich, und nun, auf der Bühne, da sie alles perfekt und fehlerlos absolviert, rechnet es sich diese Zuschauerschaft fast selbst zu, dass Bennett es bringt. Mitgefiebert, hat geholfen, wie bei Stammesritualen. Was heißt da Privatleben, bei so einer Öffentlichkeit?