AR: Alexei Ratmansky / AzT: Aufforderung zum Tanz
AR: Ich ziehe es vor, mit vorbereiteten Tanzsequenzen zur Probe in den Ballettsaal zu kommen, denn im Improvisieren bin ich nicht so gut.
AzT: Viele Choreographen heute lassen die Tänzer improvisieren…Sie nicht?
AR: Nein, allenfalls gebe ich ihnen eine Idee und sehe, welche Form sie ihr verleihen können
AzT: Wie würden Sie eine solche Idee formulieren?
AR: Die Sprache, die ich verwende, ist die Sprache, die auch die Tänzer verstehen. Ich muß ihnen nicht sagen – „Denkt Euch eine Bewegung aus!“ Wir sprechen dieselbe Sprache, schon im Training wird sie benutzt, die Sprache des klassischen Tanzes. Ich gebe ihnen die Strukturen..und dann schaue ich genau hin, ob und wie das zu ihren Körpern paßt.
AzT: Wenn ich jetzt eine Tänzerin wäre in einem Ihrer abstrakteren Werke, was würden Sie mir dann für Hinweise geben?
AR: Ich würde mit der Musik beginnen, die musikalische Phrasierung gibt mir vor, was ich tun möchte. Und dann schaue ich, ob es funktioniert mit den Tänzern. Funktioniert es nicht, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ändere ich es sofort. Oder ich sehe, man muß nur konzentriert daran proben, dann wird es gehen.
AzT: Sagen wir, wir proben an einem Adagio. Die Musik beginnt. Was sagen Sie dann zu mir?
AR: Ich sage, Du stehst auf Deinem rechten Fuß, machst ein Developpé, und dann drehst Du, und dann machst Du einen Sprung. Ich ziehe es vor, die ganz genaue Phrasierung anzugeben.
AzT: Meine Sequenz würden Sie vorher im Saal alleine proben, ganz für sich, und mir dann beibringen.
AR: Nein, ich gehe nicht ins Studio, ich brauche keinen Ballettsaal. Das spielt sich alles in meinem Kopf ab. Früher habe ich das gemacht, da habe ich ja noch am Training teilgenommen und war in Form, aber jetzt ist es besser, schneller und leichter, alle Bewegungen einfach in meinem Kopf durchzugehen. Ich kann den Tänzern natürlich Bewegungen zeigen, aber ich erwarte von meinem Körper nicht länger, dass er mir Bewegungen zeigt, die ich nicht schon bereits in meinem Kopf hätte. Diese Zeiten sind vorbei. Früher bin ich ins Studio gegangen und habe angefangen zu tanzen, nachdem ich meine Videokamera eingerichtet hatte. Stundenlang habe ich improvisiert, ich bin einfach ausgeflippt.
AzT: Schauen Sie sich diese Aufzeichnungen noch manchmal an?
AR: Manchmal kehre ich zu diesen Aufzeichnungen zurück und nehme etwas aus ihnen heraus.
AzT: Ihr persönliches Beweungs-Archiv, sozusagen.
AR: Ja, aber ich brauche es nicht wirklich.
AzT: Produziert Ihr Kopf überraschende Übergänge von einer Bewegung zur nächsten, einfach so, oder wie muß man sich das vorstellen?
AR: Ich analysiere diesen Prozeß nicht wirklich. Es sind eigentlich Hieroglyphen, niedergelegte kleine Bewegungsphrasen, mit denen man zu spielen beginnt. Alles hängt von der Musik ab, wirklich, wie sich alles entwickelt, hängt allein von der Musik ab.
AzT: Ich würde gerne hinter das Geheimnis Ihres Schaffensprozesses dringen.
AR: Ich wache um sieben Uhr morgens auf. Ich weiß, um zwölf Uhr beginnt meine Probe. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch und arbeite einige Ideen aus, die ich den Tänzern präsentieren kann. Sodass sie nicht in der Gegend herumstehen und auf mich warten müssen – bis ich Terpsichores Rat empfangen habe…..Einer der wichtigsten Momente ist, wenn man festlegt, wer zur Besetzung des Stücks zählt, wieviele Tänzer man benötigt, und wie die Kombinationen zwischen ihnen aussehen werden. Je weniger Tänzer mir zur Verfügung stehen, um so weniger Kombinationen kann ich machen. Aber natürlich steht nicht die gesamte Struktur des Stücks bereits bei Probenbeginn fest. Ich ziehe es sogar vor, wenn sich die endgültige Struktur erst im Prozess bildet. Es ist wie ein Kreuzworträtsel – es gibt eine musikalische Struktur und die choreographische sehe ich fast nicht als Erfindung an, sondern als Prozess, durch den man die fehlenden Teile nach und nach findet. Wie beim Kreuzworträtsel, wo man das richtige Wort finden muß. Manchmal hat man schon eines gefunden, von dem man denkt, es würde passen, und dann ist es doch das falsche. Und schon geht das ganze Unternehmen in eine vollkommen falsche Richtung.
AzT: Wissen Sie das dann gleich?
AR: Ja, das fühle ich gleich. Aber manchmal, wenn ich sehr wenig Zeit habe, lasse ich eine falsche Stelle erst einmal stehen, obwohl ich weiß, dass sie falsch ist. Und später kehre ich dann zu dieser Stelle zurück. Aber manchmal stelle ich auch fest, dass etwas, das ich als falsch empfunden hatte, in Wirklichkeit genau richtig ist.